Die Strudlhofstiege
Neue Pinakothek; jedoch schrieb sie auch dort Briefe, mit Mappe und Stift, auf einer der Samtbänke in den Sälen sitzend. Vor dem Gemälde von Henry Scott Tuke ›Matrosen beim Kartenspiel‹ stand Scarlez und trat zurück, als die Zwillinge in dem leeren, stillen Saale davor stehen blieben. (Es ist ein sehr großes Bild, fast zwei Meter lang und über einen Meter hoch. Der Bayrische Staat hat es 1894 angekauft. Man sieht das Verdeck eines Seglers auf hoher See. Im Vordergrunde findet auf den Planken die Kartenpartie statt. Dahinter sitzt ein ganz alter Kerl und näht. Seine Physiognomie ist vielleicht das Meisterhafteste an dem Werke. Rückwärts links, auf der Reling, sitzt ein verträumter junger Bursch, hält sich an den Wanten und blickt auf einen kleinen Affen, der im Tauwerk hockt und ihm die Pfote gibt. Dies alles hinter dem Gesichte des Alten, dieses gleichsam wieder in seine Vergangenheiten zerlegend, in seine Vielbefahrenheiten und Erfahrenheiten: der ferne Kimm des Meeres, das Äffchen, von irgend einer tropischen Insel mitgenommen, und ein junger Träumer, der jener bedächtig Nähende vielleicht einmal selbst gewesen.) Scarlez senkte die Augenlider. Mit diesem Wimpernschlag war alles entschieden, das heißt, es begann mit einem Schlage ein Rutsch und Sturz rasch aufeinanderfolgender Vorgänge und Ereignisse, die sich so schnell abspielten und von Mimi in einem solchen Zustande der Betäubung erlebt worden waren, daß sie späterhin sich überhaupt außer Stande fand, klar zu erkennen, wie dies alles vor sich gegangen und überhaupt ermöglicht worden sei? Das Deutlichste blieb noch jenes Bild von Henry Scott Tuke, der letzte klare Eindruck; denn von da ab begannen die Strudel und Wirbel. Deren äußerliche Leitmechanik läßt sich etwa folgendermaßen rekonstruieren: sie ließen in den folgenden zwei oder drei Tagen das Fräulein immer mehr ungestört im Schreibzimmer des ›Regina‹ (wo sie ihre eigentliche Reise machte, fortgesetzt beschreibend, was sie gar nicht gesehen hatte, also auf eine durchaus phantastische Art und im äußersten Gegensatze zu allen Leuten, welche an den Sehenswürdigkeiten nur so entlang stürzen, jedoch ohne jede Fähigkeit zu beschreiben, was sie ebensowenig gesehen haben). Die Schweizerin begann der Versuchung zu erliegen, welche sich da anbot, und im Grunde mußte es ihr ja gleichgültig erscheinen, ob sie nun in der Schack-Galerie saß und schrieb oder hier, wo's bequemer war. Die Zwillinge liefen also allein in die Gemälde-Sammlungen. Dann und wann allerdings blieben entweder Editha oder Mimi bei ihr (in Wirklichkeit war es immer Editha) unter dem Vorgeben, müde zu sein. Auch hieß es etwa, Mimi habe sich schon zu Bett gelegt, aber abends um neun ließ sie das Fräulein bitten, noch auf eine Minute zu ihr in das Zimmer zu kommen, und da lag sie nun wirklich im Bett, als die junge Schweizerin mit der Schwester eintrat. In der letzten Nacht allerdings nicht mehr. Die Regie wurde von Editha geführt, die sich mit solcher Hingerissenheit in diesen Groß-Schwindel hineinarbeitete (gegen den sämtliche LyzealTricks verblaßten), daß ihr dabei erstaunlicherweise gar nicht recht zu Bewußtsein kam, wie sehr alle derartigen Anstalten dazu geeignet waren, sie der geliebten Schwester zu berauben! Scarlez hatte zuerst einmal gleich nach Wildungen zum alten Pastré fahren wollen. Jedoch, er mußte sofort erkennen, daß dies schlechthin gleichbedeutend gewesen wäre mit dem Verluste jeder Hoffnung, Mimi zu gewinnen: so verbockt zeigten sich die Zwillinge ganz einhellig in diesem Punkte. Ursprünglich hatte Enrique das gar nicht einsehen können. Nach den Begriffen seiner Heimat war Mimi längst heiratsfähig und er, als ein wohlhabender Erbe und selbständiger Firmen-Inhaber, Manns genug, um dieses Mädchen von ihrem Vater als Frau zu begehren. Aber weil er, vom ersten Augenblicke an, vollends heillos brannte (für Mimi: es verdient Erwähnung, daß gerade er die Schwestern gar niemals verwechselt hat, wenngleich er fünfzehn Jahre später im Scherze sich oft so verhielt, als passiere es ihm), da er also in einer wahrhaft rasenden Leidenschaft fast hilflos war, so fügte er sich und beschritt jetzt mit voller Energie den sozusagen romantischen Weg, weil ihm der bürgerliche verwehrt blieb. (Im übrigen möge man sich einmal den alten Pastré – aus einem Gemälde von Jean Baptiste Greuze herausgetreten – angesichts der Zumutung vorstellen, seine sechzehnjährige Tochter sofort
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