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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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in Scherben gehen. So ist das Los aller auf unzüchtige Weise erreichten Güter, die genommen statt hinzu empfangen wurden, und die Sicherheit, nach der man strebte, führt in die nackte, bibbernde Angst.«
    Es erscheint bemerkenswert, daß Melzer in seiner späteren Schilderung dieses Abends die Tiraden des René Stangeler genau wiedergegeben hat ohne sich im mindesten darauf einzulassen: ebensowenig wie jetzt. An sich wäre es nahe gelegen, wenigstens dem offenkundig Absurden zu opponieren. Er hätte René darauf hinweisen können, daß dieser seine eigene notgeborne Psychologie willkürlich zum Modell der Zeitgeschichte erhob und mit dem, worin er selbst eingeschlossen war, jene aufzuschließen versuchte. Jedoch, alles das kam dem Major gar nicht in den Sinn. Aber, und das behaupten wir jetzt, nicht mehr mangels Zivil-Verstand. In den letzten acht Tagen hatte sich bei ihm viel geändert (und René hat vor dem Stein-Haus schon richtig gesehen, als ihm dort das Antlitz Melzers gleichsam zerklüftet erschien). Daß er nicht widersprach – auch im nachhinein nicht im geringsten – beweist allerdings das Fehlen kritischer Fähigkeiten und dessen, was man so im allgemeinen die Dialektik nennt. Freilich dachte auch Melzer, soweit davon bei ihm die Rede sein kann, wie jeder Mensch in Gegensätzen. Sogar bei der Rutscherei durch die Trópoi ist das ja bei uns der Fall. Aber gerade diese Ebene hatte er inzwischen eigentlich verlassen. Die, auf welcher er sich jetzt befand, wird dadurch gekennzeichnet, daß man hernimmt, was man grad brauchen kann, Reizmittel, Nährstoffe und Gifte (und solche enthielt ja jener René gleichfalls), für das eigene Wachstum: nicht aber, daß man etwas bereinigen, ausmachen, feststellen will. Der Geist des Majors (denn auch ein Major hat einen solchen, da gibt's nichts zu fackeln) war gesund und ging oder stieg nach der natürlichen Ordnung durch die Stockwerke und Stadien, deren ein höher gelegenes eben Dialektik und eigentliches Denken bilden, wenn auch keineswegs das höchste. Krebs Melzerich aber war kein Hochstapler mit lottrigen und löchrigen Etagen der Seele, wo man überall durchschlüpfen kann, wo man hier Briefe aus Diskretion nicht liest, wenngleich man könnte, dort wieder sie senkrecht stiehlt. Bei einem k. u. k. Majoren aber wird der Dienstweg ordentlich eingehalten, und da gibt es keine Kurzschlüsse zwischen Bel-Etage und Dachboden. Nach durchsausten Trópois etablieren sich die Gegensätze, man wird zwischen solchen Sachen wie ein Trommelfell gespannt und daher empfindlicher: Werkelmann, Naphthalin, Stangeler. Denken später. Besprechung erst nach dem Manö ver, nicht vorher. Ja, ja, so geht's zu bei diesen Genies in Latenz, Ferdinand Schachl, Nohel, Melzer, e tutti quanti rari rarissimi. »Der Dämon der falschen Evidenz ist's«, sagte jetzt Stangeler. »Der Ausdruck ist mir bedeutend lieber als ›inadäquate Bewußtseinshelligkeit‹. Unsere ganze Psychologie ist desinfizierte Dämonologie. Entwest, entkeimt, und steril. Aber wenn einen Studenten der Musik-Akademie der Teufel der Verkehrtheit wie Edgar Allan Poe es nennt – reitet, so daß er beim prüfungsweisen Vorspiel plötzlich an den längst automatisierten Fingersatz denkt und daran, wie's jetzt wohl weitergehe? – und sein bisher vorzügliches Spiel plötzlich abbricht: dann hat jener Dämon ihn beschattet. Mich wundert's allmählich, daß unser ganzes Zeitalter nicht einfach stecken bleibt.«
    Er schwieg, und zwar vollkommen, das heißt durch längere Zeit. Aber das konnte nicht sein, es mochte nicht angehen: denn hier war Melzers Stunde gekommen. Der Major bereitete den zu betretenden Raum richtig vor, zunächst durch Kaffee-Kochen und das Herbeischaffen frisch gestopfter türkischer Pfeifen. Dem erwachenden (Zivil-)Geist gesellte sich nicht nur alsbald Einblick in dessen Mechanik sowie sanftmütiges Unterlassen unzweckmäßigen Widerspruches, sondern auch Klugheit ward da hinzugegeben, ja sogar Pfiffigkeit, welche, wie wir den Melzerich kennen, doch seine Sache sonst wahrlich nie gewesen ist. Aber hier verriet ihm sein eigenes Ganz-Anders-Sein die Anfälligkeit von Renés neurasthenischer Natur für Narkotika, die bei ihm, Melzer, nur eine zufällige Garnisons-Gepflogenheit aus der Jugend geblieben war und nie so tief hätte gehen können wie bei Stangeler, mit dessen Art zu leben sie hier und jetzt sich augenblicklich vermählten. Und mit dem türkischen und tückischen Getränk und mit dem anderen Duft,

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