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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Apparaturen nun herausgeleuchtet, allein beleuchtet, selbständig erscheinend werden, dann geschieht immer Unglaubliches, Widersinniges, Unheimliches, das jetzt schon zäheste Kraft zeigt. Dann liebt man etwa mit unbesieglicher Leidenschaft eine Frau, die man tief ablehnt. Die Nadel ist toll geworden. Aus unserer korrupten Natur.«
    Er schwieg. Das beruhigte Melzern in einer seltsamen Weise: daß nämlich jenem die Sprache nicht durchging. Daß er absetzte. Langsam redete, immer noch knapp, immer noch die Worte wägend. Es gab Vertrauen, so etwa fühlt' es der Major; und nicht eigentlich in das Gesagte, wohl aber in die Gültigkeit dieser Situation.
    »Nun, und wer hat schon eine inkorrupte Natur?« sagte Melzer jetzt. Er hatte eigentlich gar nicht sprechen wollen. Die Worte erschienen wie eine Reflex-Bewegung der Hand, eine kleine Abwehr.
    »Seit Adam und Eva niemand. Aber hier kommt es auf das Graduelle an. Auf jeden kleinsten Schritt aus dem Wahnsinn der Zeit – denn das ist die Unzucht – zurück in der Richtung auf den festen Boden des wirklichen Seins, der Wirklichkeit zu, von wo aus die gespenstisch herausgeleuchteten Apparate wieder in ihren Zusammenhang kommen und zum Teil dem Aug' überhaupt entschwinden. Die falsche Evidenz aufgeben zu können, darauf kommt's an: sie verstellt den Raum des Bewußtseins, zieht in diesen herein, was nicht hineingehört und klimpert besorgt an einer Apparatur herum, die auf jeden Fall, mag sie noch so gut durchleuchtet sein und überblickt werden, vollständig sinnlos ist, wenn ihr der Strom fehlt. Es entstehen Probleme, die keine sind, bereits unter Zwang und Nötigung. Die falsche, besorgte Evidenz aber aufzugeben, ist unendlich schwer. Es ist ein Helden-Akt.«
    Melzer rührte sich nicht. Wohl lag er am Rücken auf dem breiten weichen Bärenfell, aber ihm war's, als läge er gestreckt auf einer schmalen Kante in Balance, zwischen zwei Möglichkeiten, ja an der Grenze zweier Reiche, in die es jetzt, nach der einen oder nach der anderen Seite, zu Tal gehen mußte: er hatte sich zu entscheiden, so schien's ihm, in welches. Und dann dort zu wohnen und zu bleiben.
    »Denn schon«, so fuhr Stangeler fort, aber immer langsamer sprechend, in der Bewegung erlahmend, wie ein Bootskiel der in's Schilf gerät oder zwischen aus der Tiefe heraufwachsende Wasserpflanzen, »denn schon«, sagte er, »haben sich Notwendigkeiten ergeben, Fragen aufgeworfen, Probleme gestellt, die keine sind, hat sich vieles mit vielem verfilzt, und eines hängt am anderen. Der so lange Zeit hindurch ungemäß belichtete und in Evidenz gehaltene Apparat ist mit seinen Automatismen toll geworden, sie schleppen uns hinter sich her, nolentem fata trahunt. Aber es sind keine Fata, keine wirklichen Schicksale, es sind Gespenster von Schicksalen. Fata morgana. Schon denkt die bloße Materie, verdammt noch einmal, hier hat er recht, der predicateur des concierges. Sie denkt Wahnsinn, Unsinn, aber ordentlich und in sich geschlossen, und die Logik und die Vernünftigkeit haben sich zusammen mit der Necessität, der jeweiligen – denn schon besteht sie jetzt! – in Erinnyen, in Furien verwandelt, die uns nun hetzen. Dicht schließt sich eine Wand von Apparaturen um uns, und ein bis in den Grund hinein unkeusches Zeitalter geht mit seinen sogenannten Wissenschaften wie mit Schraubenziehern und Flachzangen in diesen selbstgeschaffenen Urwald hinein, um zu lichten, was ja nur der zu vielen Belichtung sein Dasein verdankt. So entstehen die technischen Wissenschaften samt einer Me dizin, die auf den gleichen Haufen gehört, die Nationalökonomie, die Soziologie, die Statistik, und noch andere Ausgeburten der Unzucht. Überall sucht man auf direkte Weise zu nehmen, mit direktem Griffe, was der Grundmechanik des Lebens gemäß nur auf indirekte Weise könnte erreicht werden; überall will man nehmen und sich sichern, was nur – hinzugegeben werden kann. Nichts wird gegeben, alles nur hinzugegeben. Die bloße Logik, solange sie noch keine heillose Dämonin geworden ist, kann uns lehren, daß, wo etwas hinzugegeben wird, schon etwas da sein müsse. Ich möchte sagen, ein Brett zum Abstellen, eine feste Unterlage. Aber der Mensch von heute steht schon mit vollen Händen und immer noch reicht man ihm neue Bildungsmittel, Radio-Apparate, Maschinen, die vierundzwanzigtausend Flaschen in einer Stunde erzeugen können, neue Heilmethoden, sozialen Fortschritt, modernste Verwaltungsverfahren. Es muß alles schließlich fallen und

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