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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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dem blauen – zwischen dessen Schleiern jeden Augenblick die Konturen einer fernen Stadt aus Tausendundeiner-Nacht als seine eigentliche Wirklichkeit hervortreten wollten – mit alledem kam Melzers erster Vorstoß, wenn man seinem Tasten diesen entschlossenen und militärischen Namen zubilligen will:
    »Wenn nun aber die Natur einmal korrupt ist, was soll man tun?«
    »Erstens es wissen, als ein Verhängnis und ohne was Positives daraus machen zu wollen. Zweitens ihr trotzdem folgen. Ergreifen, wovon man ergriffen ist. Dem schon fliegenden Pfeil erst die richtige Spitze aufsetzen, dies ist das Kunststück, das entscheidende. Haben wir gezielt? Haben wir abgeschossen? Sehen wir das Ziel? Dieser Schuß ist ein ›indirekter‹, wie die Artilleristen das nennen. Mehr noch: er geht gewissermaßen – um's Eck. Alles was wir tun können ist nicht stören.«
    »Und deswegen werden Sie, sobald es einmal möglich ist, heiraten?« sagte Melzer, etwa so, wie man ein Scheit in's Feuer nachwirft.
    »Ja«, antwortete René. In das Wörtchen packte er jetzt gleichsam zusammen, was da oder dort noch hervorstehen und widerstreben wollte, und nahm es auf wie einen Rucksack. Der Major fühlte, daß man, von dem schmalen Pfade dieses Gespräches nur handbreit beiseite geratend, schon in ein dicht wucherndes Buschwerk recht gesunder Einwände treten müßte. Aber es war ihm darum nicht zu tun. Als er wieder auf dem Felle lag, als Kaffee und Tabak neuerlich dufteten, suchte er grad über sich, gegen die Zimmerdecke zu, die Unzerstörtheit dieser seltsamen Unterredung wieder herzustellen: daß sie wie früher gleichsam als ein Drittes über ihnen schwebe, im Hellen, während man auf dem dunklen Grunde lag, daß sie dort oben quirle, perle und schäume, wozu man durch kleine und vorsichtige Bewegungen immer neu beitragen konnte. Aber René sprang ab.
    »Übrigens habe ich Ihnen für Mittwoch, den 9. das ist nach Mariä Geburt, eine Einladung zu überbringen, Herr Major, oder Sie eigentlich auf eine Einladung, die kommen wird, vorzubereiten«, sagte er.
    Melzer erschrak. Man wird das im großen und ganzen verstehen, wenn's gleich sinnlos war, denn heute am Nachmittage noch war er mit Editha und Eulenfeld an der Lände entlang spaziert – bis Nußdorf, bis zur Entlassung des Blickes in die größere Strombreite, nach der vielen Häuser- und Fabriks- Besäumtheit des Kanals – und Stangeler kam ja von Grete Siebenschein. Aber in diesem Augenblicke sah Melzer die Folgen der letzten vergangenen Stunde und dieser Unterredung hier, fühlte er eine geschlagene Bresche, groß wie ein Scheunentor, in dem Ringe, den er einen Sommer lang mühsam um sich zusammengehalten hatte, gleichsam einen Schatz, ein Kapital hütend, das – um mit Stangeler zu reden – gleichzeitig allzu evident gewesen war … Eine Erinnerung tauchte aus der Kriegszeit herauf, damals eine harmlose Belanglosigkeit, jetzt breit wie der Rücken eines Walfisches, träufend von Frische, glänzend und spiegelnd von neuer Bedeutsamkeit. Er war in einen Schnellzug, der von Berlin herkam, in Prag eingestiegen (seine 1918 verstorbene Mutter lebte damals eine Zeit lang dort statt in Innsbruck, und so hatte er einen Teil des Front-Urlaubes zu Prag verbracht) und in ein Coupé getreten, darin ein Artillerie-Oberleutnant saß und sonst niemand. Dieser Offizier reiste von Deutschland herein, ein Metallurge des Kriegs ministeriums, Reservist übrigens, der in dienstlicher Mission draußen gewesen war, zuletzt in Hamburg; das paßte irgendwie zu dem Manne, denn der sah wie ein Schiffskapitän aus und obendrein wie ein Engländer, trotz der österreichischen Uniform. Worin hier das Englische lag, wäre nicht leicht zu sagen gewesen, die lange, blonde, hagere Figur allein tat's nicht. Vielleicht die lockere Ausgestrecktheit der Gliedmaßen, der keineswegs knappe Schnitt des braunen Waffenrockes. Oder die Schuhe. Die Hände. Die Art, wie er rauchte. Dieser Oberleutnant und Ingenieur nun hatte zu Hamburg einige nach der Schlacht am Skagerrak hereingeschleppte schwer havarierte deutsche Panzerschiffe gesehen und beschrieb Melzern diesen Eindruck: riesige Tore gerissen in die grauen Massen von den Granaten der schweren englischen Schiffs-Artillerie, Einbrüche und Zusammenstürze, gewölbte, gedrehte, tief gebeulte Platten am Rande. Ein Wagen hätte hindurch fahren können, herein oder heraus. So starrten die geöffneten Breschen. In Melzer starrte jetzt etwas ähnliches, während er dies

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