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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Da ihm eine solche Zuständlichkeit bisher im Leben nicht zu Teil geworden war, empfand er Scheu vor ihr, fast Ehrfurcht; und er hielt sie für glaszart und flüchtig. Er hätte es nicht gewagt, die Lage seines Leibes jetzt auch nur um ein geringstes zu verändern; und damit beweist uns dieser einfache Mann, daß jedem wirklichen Erwachen des Geistes gleich auch eine zutreffende Vorstellung von der grundbedingenden Mechanik eben dieses Geistes mitgegeben wird. Melzer rührte sich nicht, er verhielt sich buchstäblich konservativ, um mit Stangeler zu reden; und er wendete so ein bereits – ohne Handumdrehen – neu erworbenes Wissen an: daß nämlich der Mensch nicht nur mittels des Kopfes und oberhalb des Kragenknopfes denkt (wie die Fachgelehrten), sondern mit dem ganzen Körper.
    Er sagte zunächst nichts. Er sah, daß der Rauch von den Tschibuks in einem schrägen, graden Strich quer über dem Bärenfelle hing. Er spürte, als sei ihm die Nase plötzlich geschärft, den im Zimmer noch geisthaft schwebenden Duft des Mokkas, wie aus den dunklen Ecken getreten, wie ein Licht. Er hörte die herankommende Straßenbahn von fern, unten in der Porzellangasse. Jetzt erklang's aiolisch klagenden Tons in E. P.s Schreibzimmer, wo Stangeler einst nur so aus und ein gegangen war, um dann plötzlich, von irgendeinem Tage ab, dort so gut wie gestorben zu sein. Das Bild Renés hätte an der Wand hängen können wie das eines Abgeschiedenen. Vielleicht mit einem kleinen Zettel unten am Rand und Rahmen, darauf geschrieben: »Bild«. Damit man es nicht mit einem Servierbrett oder der Schreibtischplatte verwechsle. Melzern schien's jetzt, als sei René Stangeler seit jenem Tage des Bruchs und der Trennung erst recht eingegangen in den E.P., als habe dieser jenen äußerlich keineswegs mehr nötig, ein entbehrliches Glied, das gleichsam zurückgezogen worden war. Dafür redete er manchmal aus ihm, der René aus dem E. P. Die Rauchfahne über dem Bärenfell wölkte. Sie zerfiel. Die Straßenbahn war über den Berg des eigenen Lärms längst wieder hinüber und davon. Schon weit. Nur Spuren noch hörbar.
    »Ja«, sagte Melzer endlich.
    »Ja«, wiederholte Stangeler und sprach weiter: »das ist die haarfeine Grenze, über welche hinaus man sich nicht einlassen darf, denn von hier an beginnt die Heillosigkeit.« Auch bei ihm, der jetzt immerhin seine Schultern auf dem Bärenpelze bequem zurechtschob, war's, als redete er aus einem schwebenden, dämmernden Schlafe, einem richtigen Kèf; und nicht so sehr er sprach seine Worte aus als sie ihn: und auf die vollkommenste Art. »Das ist's: wenn man sich über diesen Apparat beugt, hat man die Nadel schon irritiert; die Windrose unserer Neigungen kann nicht befragt werden wie eine Taschenuhr. Jede von jenen beweist da nur, daß sie hervortreten und alle anderen zusammen unsichtbar machen kann, oder daß sie ebenso plötzlich zu verschwinden vermag, um einer anderen den Platz zu lassen. In Wirklichkeit sind wir zu nah an den Apparat geraten, und wir stupsen und stoßen ihn, ohne zu wollen, aber er zeigt keinen entschiedenen Ausschlag, denn es fehlt ihm ja der Strom, welcher allein die Nadel in einer Richtung festlegen kann. So spielen wir unsere Neigungen gegeneinander aus und vergleichen ihre Stärke. Jedoch sie wechseln ständig, und alle sind gleich schwach. Wir aber sitzen tief zwischen ihnen schon drinnen, und da wollen wir was entscheiden, auf diesem Pfade der Unentschiedenheit, wo nichts als Materielles, nämlich Apparatur ist, und gleichsam nur von seitwärts gesehen, Apparatur und wieder Apparatur, die sich gegenseitig ablöst. Wir sind da zwischen die Apparate geraten, wir sind denkende Materie geworden. In den ›Londoner Briefen‹ sagt Voltaire einmal: ›Ich bin Körper und ich denke – mehr weiß ich nicht. Werde ich nun einer unbekannten Ursache zuschreiben, was ich so leicht der einzigen fruchtbaren Ursache, die ich kenne, zuschreiben kann? In der Tat, wer ist der Mensch, der ohne eine absurde Gottlosigkeit versichern dürfte, daß es dem Schöpfer unmöglich sei, der Materie Gedanken und Gefühle zu verleihen?‹ O ja, sie kann denken, die Materie. Aber was sie denkt, wird notwendig Wahnsinn sein. Das Licht des Bewußtseins hat sie irgendwohin zwischen das Gestänge und die Räder und das Getriebe gestellt und es von dort weggeholt, wo es diese gesamte Mechanik im Zusammenhange mäßig erleuchtete, um jetzt irgendwelche Einzelteile perspektivisch wild verschoben

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