Die Strudlhofstiege
weißem Milchglas, friedliche Völker, die Götter fürchtende Völker: das Volk der Brüste, so viele ihrer waren aus den vielen Liebesnächten mit Grete in den unterschiedlichen Jahren, zahllose, immer anders, in diesem Schatten, in jenem Lichte, in dieser Rundung, in jener springenden Kraft, wenn das Hemd fiel. Das vielfach gehende Volk der Füße durch die Jahre, der keck stöckelnden, der wacker und bieder stehenden, der bloßen und dummen, der guten, der laufenden Herzfüßlein. Die geheimnisvollen Völkerstämme der zahllosen Lenden und Hüften aus so viel unter schiedlichen Nächten, und nicht eins gleicht dem andern in diesem Volke, das ein zum großen Teil fast priesterliches war und tief verhüllt. Er blieb klein auf dem Teppiche sitzen, während der Göttin Schaaren wogten und wanderten, die Kraft lag tief geduckt im hintersten Winkel des Zwingers und sah mit runden Augen auf das, was da kam und kam, und vollends verschüchtert: denn es kam für sie, es wanderte auf sie zu. Kein Bogen ward gespannt. Kein Pfeil schlug wie ein Beil in's Ziel.
Nimmt man die Distanz richtig und kein Blatt vor den Mund: dann muß man schon sagen, daß Melzer am Samstag, dem
5. September, in eine fürchterliche Gesellschaft hineingeriet; und zudem in ein kühles Wetter; es war kurz nach dem Beginn des Monats fast etwas wie ein Kälte-Einbruch erfolgt, der bis Mariä Geburt anhielt, um danach zwei wärmeren und heiteren Tagen Raum zu geben.
Donnerstag, nach dem Weggange Theas, hatte der zihaloide Amtsdiener Melzern übrigens noch durch eine gute Weile grausam und sanft gepeinigt, auf eine Art, die entfernt an gewisse ganz raffinierte chinesische Hinrichtungsmethoden erinnern konnte, wobei auf den rasierten Kopf des Verurteilten, und immer genau auf die gleiche Stelle, in gleichen Zeitabständen ein Wassertropfen fiel: in so unblutiger Weise Wahnsinn und Tod wirkend. Also das Zihaloid durch leises Raunzen, das dünn aus ihm rann (nicht unverwandt den Klagen und Befürchtungen des Vaters Rokitzer, als Thea im Begriffe war, sich zu der Abendgesellschaft bei dem Baron Eulenfeld zu begeben, am Samstag, dem 29. August – ›hujus‹ [ergänze: anni] hätte der Rittmeister gesagt, oder ›anni currentis‹, also 1925). Und was spann den grauen, zihalistischen Faden der Besorgnis im Amts-Organ? Etwa gar der stattgehabte Besuch jener zwei Damen?! Bei weitem nicht. Diese amtsfremden Erscheinungen hatten ganz im Gegenteile einen Licht-Akzent in dem diesbezüglichen Organ hinterlassen, welches sich da bei der Übung altfränkisch-ritterlicher (und doch auch irgendwie spanischer!) Courtoisie – im Lächeln, Verbeugen, Geleiten, Öffnen der Türen, Zurücktreten – nicht unerheblich erwärmt hatte. Und verjüngt! So tief ging die Erwärmung: zurück in die Ferne der Jahre. Bis zu Sonntag-Abenden auf dichtgedrängtem weinlaub-umsponnenen Perron, bei der Rückkehr von eben diesem Weine: und ihr warmer Arm in dem seinen. Und man war ihr doch was wert gewesen, ihre Augen schwammen ein wenig, sahen auf. Nun ja, ein junger Bursch! Es leuchtete fern, wie die grünen Spitzchen aus den Hausgärtlein geleuchtet hatten im Frühjahr über den runzligen Mauern der Vorstadt. Viele runzlige Mauern und Mäuerchen quergeschobener sogenannter Lebens-Abschnitte – wobei eben alles abgeschnitten wird, was man grad nicht lebt! – lagen dazwischen. Im Grunde sind das lauter Gemeinheiten.
Jetzt aber fehlte die von dem Herrn Major bereits unterfertigte Lohn-Anweisung für die Bedienerinnen, Putzfrauen. Das Organ hatte sie – nämlich nicht die Putzfrauen, sondern die Anweisung, den Achtel-Bogen für die Kassa – eben in der Hand gehabt, und in derselben behalten bei Geleitung Edithas, dann aber irgendwo hingelegt, vielleicht bevor er enteilt war, um die Dame zu melden. Vielleicht in der Registratur. Aber die dort jetzt inventarisierenden, senkrecht auf Stehleitern steigenden und sinkenden, waagrecht längs der Tische sich behend verschiebenden Organe wollten nichts dergleichen gesehen haben und unterbrachen ihr Ritual und ihre wechselseitigen Zurufe keineswegs. Aber die Sache mit der Anweisung ging doch irgendwie gegen die Ehre: mochte da der Herr Major immer sagen ›hören's schon auf, ich bitt' Sie, Kroissenbrunner, schreiben's halt den Wisch noch einmal und melden's bei der Kassa, daß nur die Anweisung mit dem heutigen Datum gilt, halt doppelt für einfach, oder wie oder was‹. Aber der Herr Major hatte doch schon unterschrieben gehabt! Also konnte
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