Die Strudlhofstiege
man nicht mehr von einem ›Wisch‹ sprechen. Es war eine Urkunde. Sie trug die Unterschrift des Herrn Major: Melzer, Amtsrat. Beim Militär, das wußte Kroissenbrunner noch recht gut, sind solche Sachen natürlich immer watscheneinfach gemacht worden. Aber hier beraubte ein derartiges Versehen – seines, Kroissenbrunners Versehen, seine eigene Unzulänglichkeit! – gleichsam die Worte Pünktlichkeit und Pflichterfüllung‹ ihrer iPunkte und machte sie inkomplett. Übrigens war ihm der Ausdruck ›melden‹ seit seiner Dienstzeit längst befremdlich geworden. Dem Herrn Major allerdings billigte er diese Redeweise respektvoll zu. Es blieb nichts anderes übrig, als das Stück (den Zettel für die Putzfrauen) noch einmal auszufertigen. Er tat's. Als er es dem Herrn Major dann – ein zweites Mal! – zur Unterschrift vorlegen mußte (›na also, jetzt beruhigen's Ihnen aber schon, Kroissenbrunner‹, sagte Melzer, und machte geschwind seine Kraxen), empfand er Schmerz. Es war einer von jenen armen Schmerzen, die im Himmel sofort ein kleines Engerl in ein dickes schneeweißes Buch in der Registratur einträgt und zwecks späterer Tröstung aller Kroissenbrunners (und sämtlicher Genies in Latenz überhaupt) mit unvorstellbar scharfer Genauigkeit in Evidenz hält, wobei es jedoch nicht auf einer BüroHose sitzt, sondern auf einem Rosenpopo.
Jetzt freilich waren für Kroissenbrunner eigentlich und im tiefsten Grunde jene in der Registratur auf und nieder tauchenden, hin und her gleitenden Gestalten das Ärgerlichste gewesen: ihre Ungerührtheit, ihr Kaum-Hören, ihr Nur-zwischendurch-was-Sagen – und auf jeden Fall, ohne erst nachzusehen, in offenkundiger Gleichgültigkeit: ›nein, nein, da ist nichts gelegen, wir haben nichts gesehen.‹ Natürlich hatte er sich zwischen den Spinnenbeinen der Stehleitern durchgezwängt, natürlich war er zwischen den gleichmäßigen Kursen mit fixierten Bahn-Elementen der Waagrecht-Pendler mühsam (und dabei ungeduldig angerempelt) durchgeschlüpft, um selbst zu suchen. Er störte sie gar nicht ungern. Denn hier lag allzu offen am Tage, ja infam, auf welchen Grad von Wurstigkeit der Mensch, wenn's ihm um irgendetwas wirklich zu tun ist, bei allen anderen stößt, die einem Malheur höchstens deshalb Beachtung schenken, um ihr eigenes Unbeteiligt-Sein daran zu genießen. Unbeteiligt waren diese da freilich, diese – Ziegelschupfer, Paketzähler, Magazineure: denn mit der Registratur selbst hatte ja ihre rein manuelle Tätigkeit hier in dem Vor- und Vorratsraume nicht das allermindeste zu tun und mit keinerlei Urkunden überhaupt, sondern mit Schachteln voll neuen Bleistiften, Federstielen, Büroklammern, mit Paketen von weißem Konzeptpapier, mit Farbbändern für Schreibmaschinen, und mit unterschiedlichen neuen leeren Vordrucken und Formularen; angenommen schon, es würden davon ein paar fehlen: man striche sie als beschädigt aus dem Inventar, basta! Kein neues Konzept, keine zweite Ausfertigung (›oder wie oder was!‹ hatte der Herr Major gesagt, na ja, beim Militär freilich …), keine Notwendigkeit, die Unterschrift noch einmal einzuholen …
Kein Schmerz.
Jetzt hören's aber wirklich auf, Kroissenbrunner.
Die Gesellschaft war also schon irgendwie fürchterlich (jene, in welche Melzer am Samstag geriet). Die Gesellschaft, sagen wir: nicht ihre einzelnen Elemente. Diese höchstens teilweise. Und wenn auch jede Gesellschaft bekanntlich von den Mindersten der Anwesenden in ihrem Niveau am meisten bestimmt wird, so hat man mit jenen doch lange noch nicht dieses plan gegeben. Und überhaupt noch nicht mit der Qualität und Quantität der Elemente. Die organische Chemie, eine Wissenschaft, die im übrigen niemand als immer und durchaus wohlriechend wird bezeichnen können, bedient sich daher gerne der sogenannten Struktur-Formeln, welche die neu auftretenden und sonst unbegreiflichen Eigenschaften ganz gleich zusammengesetzter Verbindungen durch Aufzeigung des Verhältnisses anschaulich macht, in welches das einzelne da zum einzelnen getreten ist, und so erst die Eigentümlichkeit des Ganzen erklärt. Das wäre hier auch nicht anders möglich gewesen. Elemente wie der Sektionsrat Geyrenhoff etwa, oder Frau Camy (Camilla) von S. geborene Schedik, und meinetwegen sogar deren Mann, der Kajetan, und meinetwegen noch der Herr Dr. Negria dazu: diese alle sind an und für sich als recht adrett, brav und sauber zu bezeichnen und in olfaktorischer Hinsicht als lavendulös,
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