Die Strudlhofstiege
er, Melzer, er selbst, sein Werk, sein Widerhall. Er mußte es hinnehmen. Jedoch, was für Melzern weit schlimmer: nicht nur etwas versäumt zu haben, bedrohte ihn, sondern der mögliche Verlust eines ganzen spannenden und erwärmenden Gefühls, eines Begehrens, eines Inhaltes auch auf seiner Seite. Und statt daß er hier kalt und frei wurde – dadurch, daß jener Reiz sich zurückzog, intermittierte, ausblieb, der gerade in ihrem Wünschen und Wollen lag, daß sie ihn wollte, gerade nur und durchaus ihn – dadurch, daß jener Reiz sich zurückzog, wurde er nicht kalt und frei, sondern erschrocken, angstvoll, weil etwas aus ihm herausgebrochen war und fehlte, eine leere Stelle sich wies …
Deren spannungsvoller Inhalt von einst ihm jetzt wie noch nie erwünscht gewesen wäre. Auf der Flucht. Lämmlein hinter ihm! Bäh, bäh!
Aber, es konnte ja vorübergehen. Diese qualvolle Leere konnte sich schließen, sich wieder füllen, ihn wieder tragen. Melzer übertrieb, indem er die Erscheinung als ein Vereinzel tes so im Gefühle heraushob (und jedes einzelweise Nennen ist bereits ein Übertreiben, ein Absondern der Sachen vom Flusse des Lebens, ja, wesentlich übertreiben wir schon, wenn wir nur irgendein Ding etwas schärfer in's Auge fassen). Jetzt indessen, während der Fahrt, wenngleich einander halb zugewandt, wenngleich nicht selten fast aufeinander geworfen (wenn der Rittmeister bei irgendeiner Kurve den Wagen hinter den anderen Fahrzeugen her warf) wollte jene Empfindung, die er am ziehenden Wasser des Kanals gehabt, in Melzer wiederkehren; ja, er fühlte fast etwas wie Spreizen zwischen Editha und sich selbst; und aus ihren Blicken, aus irgendeiner halben und belanglosen Entgegnung sogar eine Spitze hervorstehen und gegen ihn sich kehren. Und das gerade war's, was ihn rasch und vollends abkühlte, wie mit einem Gusse; und seine Riposte auf einen so winzigen und doch fühlbaren Stoß bestand seltsamerweise dann nur darin (das ist aber nicht wenig!), daß er Editha Schlinger weit deutlicher sah, ja, an der Grenze der Zerreißung jener Aureole, die nötig ist, um etwas als Ganzes zu sehen, um dessen Zauber zu fühlen: welchen aber gerade an der Stelle des Risses zu zerstören ein herausgeleuchtetes Stückchen Gesichtshaut genügt, am Nasenflügel etwa, wo es eine Rötung zeigt, oder sonst ein Teilchen des vielfältigen Apparates, ein neben seinen porzellanenen Brüdern leicht verfärbter Schneidezahn, oder die eben doch schon um's Auge zusammenlaufenden Strichzeichnungen der Jahre, ausgeschliffene Geleise der fahrplanmäßigen Züge des Charakters.
Jedoch, als sie draußen im Grünen nebeneinander gingen, änderte sich wieder alles, und sie kam aus ihrer gleichgültigen, ja kühlen Haltung (deren Wirkung ihr selbst vielleicht auch nicht entgangen war) plötzlich und impulsiv hervor, sprach lebhaft und fragte Melzern vieles: so daß er die ganze Tastatur seines Gedächtnisses aufklappen mußte und alle Oktaven da offen und bereit lagen, die hohen und die tiefen – auf welchen er ja auch sonst ständig spielte, bewußt oder unbewußt, tagaus und tagein, wie's nun eben einmal geworden war bei unserem Majoren im Lauf der Jahre, ganz besonders aber seit diesem Sommer, und am allermeisten seit Samstag, dem 22. August. Eine unbegreiflich lange Zeit war seit damals bis zum heutigen 5. September vergangen, die sich in gar keiner Weise in den kalendermäßigen Raum von genau vierzehn Tagen mehr einfügen ließ. Es stieß ihn das jetzt an wie ein ganz und gar Unbegreifliches, wie ein Wunder. Sie fragte (eigentlich sagte sie gar nichts, sondern fragte immerfort) unter anderem nach Konietzki, dem ›entthronten polnischen König‹, ob er von dem was wisse und ob er sich an den Edouard von Langl noch erinnern könne, und wo der jetzt sei?
»Vor gar nicht langer Zeit hab' ich die beiden gesehen«, sagte Melzer, »genauer: am Freitag, dem 28. August, nachmittags.« Sie blickte ihn etwas verdutzt an bei solcher Genauigkeit; ja, und er selbst war nicht ohne Verwunderung darüber. Plötzlich spürte er's, das quälende Licht im Innern, daran er schon sich zu gewöhnen begann seit einigen Tagen; aber nun erinnerte er sich, wie das gewesen war: ohne diesem zu leben. So aber – als hätt' es ihm wer gebracht, es in sein Inneres hineingetragen, es da gleichsam fest montiert! Die Evidenz. Zugleich litt er doch gerne an ihr! Und eine ungeprüfte, aber ganz gewisse Gewißheit bestand hinsichtlich des einen Punktes: daß es nicht die
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