Die Strudlhofstiege
Herrn Majors eigentliches Arbeitszimmer inzwischen eintreten lassen (im Vorsaal der Registratur werde heute nach zehn Uhr Inventur aufgenommen – dies war die handhafte Begründung); zwei Damen bei dem Herrn Major an einem Vormittage – wo jener noch niemals irgendwelchen Besuch im Amte je empfangen hatte – dies ließ auf ungewöhnliche Vorgänge schließen (und, wie wir jetzt schon sagen dürfen, mit Recht!). Neu herantretenden unerhörten Erscheinungen gegenüber aber reagiert auch der niedere Zihalismus vor allem mit dem Bestreben, die Form zum Siege über den Inhalt zu führen (ein wesentlich kultureller Antrieb), was auch durch Übersteigerung des Inhaltes bis zur Haupt- und Staatsaktion möglich ist: so kommt das Phänomen ganz von selbst zu Dekor. Während das Zihaloid solchermaßen Geheimnis um Tür und Gang wob, trat Melzer bei Thea ein, oder eigentlich in seinen eigenen Amtsraum.
Da war sie. Und schlechthin breitschlagend: so reizend hübsch. Es kommt aus keiner gewissen Kenntnis, sondern nur aus einer Vermutung, wenn wir hier sagen, daß Paula Pichler noch am Morgen bei Thea gewesen sei, vor dem Ausgange, um sie gewissermaßen zu inspizieren. Aber es hat diese Vermutung viel Wahrscheinlichkeit für sich; und ebenso, daß der Gedanke, dem Major ein Visitekärtchen hineinzuschicken, von der Pichler ausgegangen sei. Sieht man näher zu, dann möchte man's wirklich fast glauben.
Das Lämmlein führte seine Aufgabe brav und ordentlich durch. Aber auch, wenn es dies nicht vermocht, wenn es steckengeblieben wäre und etwa nur ›Bäh, bäh!‹ gemacht hätte, der Erfolg mußte unzweifelhaft sein. Melzer stand staunend vor dieser Durchsichtigkeit, vor den gläsernen Präsentierbrettern und den Fächern ganz aus Glas; und daß er von dem, was darin war, gerade dasjenige nicht sah, was ihn anging, ist nur auf die besondere Gehaltenheit seines Auges zurückzuführen, welches durchaus nicht sehen wollte, was ihm hier hinzugegeben wurde, und im tiefen Schatten ließ, was einer Paula Pichler sonnenklar war (in einer hier wirklich ›adäquaten Bewußtseinshelligkeit‹ um mit dem Herrn von und zu René zu reden). Aber in diesen Augenblicken – während es durch Sekunden still zwischen ihnen geworden war und er sie nur freundlich ansah und noch ihre Hand hielt – hat er ansonst (seiner eigenen späteren Aussage nach) ähnlich wie jene Paula empfunden und, obwohl er doch manches wußte und sah, was man an Unordentlichkeiten in den Glaskasten gestellt hatte, sich später merkwürdigerweise dahin geäußert, daß ihm in jenen Minuten oder eigentlich Sekunden blitzartig klar geworden wäre (eben erreichte ein Straßenbahnzug unten in der Porzellangasse den Gipfel des Bergs vom eigenen Lärm und sank schon ab, E. P.s Schreibzimmer alsbald aiolisch erklingen lassend), daß ihm also klar geworden wäre: was eine Jungfrau eigentlich sei. Auf so etwas muß einer in einem Amtsraum der Generaldirektion der österreichischen Tabak-Regie kommen! Und dabei war sie de facto keine mehr. Wer dagegen hier recht behielt, war das Zihaloid, der Amtsdiener: es handelte sich also doch und wirklich um eine Haupt- und Staatsaktion für Melzer, wenn auch eine höchst interne. Und er gelangte im Nu zu Dekor; denn er stand in Ehrfurcht vor der hier erschienenen Partei. Das freilich ging über den Zihalismus hinaus. Melzer fühlt' es nicht. Er war kein Zihaloid. Sondern ein Infanterist, der jetzt nicht ganz sicher, viel mehr etwas gelüpft, oder über einem sich hochwölbenden Boden, auf seinen antikischen Beinen stand: und sich zuschwor, lieber zu sterben als etwas in diesen Glaskasten zu stellen, was sich darin nicht mit Ehren konnte sehen lassen. Er versprach mit Freuden zu kommen.
Sie ging.
Sie war weg.
Sie war vorüber. Es klang aiolisch nach. Es brauste. Es schwang durch alle Kammern.
Melzer sank an seinem Schreibtisch zusammen. Er kam schwer über diesen Gipfel des Bergs der eigenen sich im Innern auftürmenden Bewegung. Er kämpfte ehrlich im Rückzugsgefechte, damit keine blinde Flucht und Auflösung eintrete, er stellte Sicherungsposten aus.
Und löste sich allmählich und schwierig vom Feinde ab.
Vom Feinde. Bäh, bäh!
An diesem Tage kam René Stangeler nachmittags zu Grete Siebenschein hinauf und hörte, im Stiegenhause vor der Wohnungstüre stehend, daß es ihr Schritt war, der sich jetzt drinnen durch das Vorzimmer rasch näherte, und nicht der des Stubenmädchens, noch auch jener der Frau Doktor. »Wir sind ganz allein
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