Die Strudlhofstiege
heißt, wahrscheinlich sei er schon unten. Mehr wäre nicht zu erfahren gewesen. »Das gibt es doch gar nicht!« sagte Melzer. »Den René hab ich ja eben noch gesprochen.« Als er von Marchetti sich getrennt hatte, erkannte Melzer erst seinen Irrtum. Bei Gerstner, in dem Eckchen, das sie gefunden hatten, sagte ihm Editha, daß sie den Samstag und Sonntag ganz ihren Eltern werde widmen müssen. Aber, wenn es ihrem Vater schon besser gehen sollte, dann würde sie Melzer noch am Sonntag-Nachmittag von der Gußhaus-Straße aus telephonisch anrufen – »der Apparat ist ziemlich abseits, in dem einen großen Vorzimmer, ich hoffe, ich werde ungeniert sprechen können«, sagte sie – und ob er also ihr zuliebe am Sonntag-Nachmittage daheim bleiben wolle? »Das versteht sich doch von selbst«, sagte Melzer und drückte rasch ihre Hand. »Und vielleicht sag' ich dir dann gleich, wann unser Fest sein soll«, fügte sie leiser hinzu, den Händedruck erwidernd, »weil ich dann schon wissen werde, ob und wann ich die Alten allein lassen kann.« Melzer empfand das alles als gut, fest, handhaft: nicht ein Schein nur oder leuchtender Streif, der irgendwo fliegt und huscht, um wieder zu verschwinden ohne Bezug auf die Wirklichkeit. Er fühlte sich wie getröstet. Sie saß bei ihm, ihr Körper war sehr nah, und so wenig sie es vermied, von der bevorstehenden Vereinigung zu sprechen, so wenig vermied sie hier die Berührung des Armes, der Hand, die warme und zarte Nähe des Knies. »Ich werde trachten, dir am Sonntag schon genau Tag und Stunde sagen zu können, wann ich dich bei mir erwarten kann«, setzte sie hinzu, und nach ein paar Augenblicken: »denn es ist – eine Qual, so. Das nächste Mal sehen wir uns schon bei mir. Ja?!« – »Ja«, sagte er und küßte ihre Hand mit Nachdruck. Die kalte Unterströmung war weg, die er auf der Strudlhofstiege empfunden hatte. Er fühlte ihr Wollen, die offenkundige Bereitschaft: Wände, auch solche, die vor kurzem noch mitten durch ihn gelaufen waren, brachen, immer mehr durchleuchtet vom roten Scheine, platzten endlich, Riegel knackten, es wölbte sich der Boden auf. »Und um eines bitte ich dich«, sagte sie jetzt, »sei pünktlich dann, wenn du zu mir kommst, ganz pünktlich. Lasse mich nicht warten. Warten zerreibt mich, es macht mich zu allem unfähig. Ich bin dann nur ein halber Mensch. Wirst du pünktlich sein?«
»Ganz«, sagte Melzer. Sie hatte ihn jetzt getroffen, irgendwie sogar in's Mark der Vergangenheit und, ohne daß ihm solches bewußt ward, geradezu in die Soldaten-Ehre. Denn eben an der Pünktlichkeit hatte er's eigentlich in seinem Leben am wenigsten fehlen lassen. »Du hast doch damals, im Juli, meinen Brief noch rechtzeitig bekommen, wie ich krank war, Editha?« sagte er. »Ja, ja«, erwiderte sie rasch, »ich sag's nur auf jeden Fall, weißt du, ich fürchte mich so vor dem Warten. Ich kann nicht warten.« Er hatte natürlich gefragt, was ihrem Vater eigentlich fehle, aber keine genaue Antwort bekommen; vielleicht wußte sie es selbst nicht, vielleicht hatte man es noch gar nicht zweifelsfrei feststellen können; jedenfalls schien's mit den Nieren oder mit der Galle im Zusammenhange oder mit beidem. »Er fühlt sich aber jetzt besser«, bemerkte sie. Zwischendurch erinnerte sie Melzer an eine Auskunft, die sie schon im Sommer von ihm einmal erbeten habe, wegen des Einkaufes größerer Mengen von Zigaretten und Virginia-Zigarren. »Um Himmels willen«, sagte Melzer, »du wirst doch nicht …«
»Ich rauche selten, wie du weißt, und meistens nur, wenn ich allein bin«, entgegnete sie, »aber dann ist mir nichts stark genug.« Er sagte ihr nun – nachdem er zunächst seine amtliche Inkompetenz offenherzig eingestanden hatte – daß die Zeit für einen solchen Einkauf jetzt eine sehr ungünstige sei (wie er ziemlich sicher zu wissen vermeine), und das aus Gründen, die schon den ganzen Sommer obgewaltet hätten. »Wieso denn?« fragte sie und Melzer antwortete, daß er ihr dies noch umständlich auseinandersetzen werde, aber nicht gerne hier; er wolle jedenfalls auch weitere Erkundigungen einziehen. Aus dem angegebenen Grunde aber sei er im Hochsommer gar nicht mehr darauf zurückgekommen (war dies nun eigentlich gelogen oder nicht, Melzerich?!). Sie sprang vom Thema und sprach dann wieder von ihren Eltern und von dem Anruf am Sonntag-Nachmittag und von dem ›Fest‹, wie schon erzählt worden ist.
Gegen sechs kam Melzer heim. Als er ins Vorzimmer trat, läutete
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