Die Strudlhofstiege
Platz tauschen: es an den Rand schieben, sich selbst in die Mitte setzen. Aber grad umgekehrt war's. Dennoch fühlte sie den Anruf, sich zu erheben, an's Fenster zu treten, die Gasse entlang zu sehen. Vielleicht überrollten ruhig und gleichmäßig jene Fahrzeuge deren Breite? Sie erhob sich. Nicht schnell, sondern langsam, achtsam, sie sah vorher an sich herab. Sie muß sehr schön gewesen sein in diesen Augenblicken. Das Licht, wenn auch ohne Sonnenschein, fiel durch's hohe breite Fenster direkt auf sie. Ein kluges, wahrhaft wohlgeratenes Weib, die jetzt fast ehrwürdig wirkenden Züge uralter Rasse, das kupfrig leuchtende schwere Haar um die Schläfen, deren Haut schimmerte, wie das Innere einer Perlmuschel: und dies alles, die nun verhüllten Glieder, das tunneltief beseelte Aug', die kleinen Hände, die schlanken, aber kräftigen Beine, auf denen sich recht gut stehen ließ, die winzigen Füße, welche treu und brav das ganze Werk trugen: dies alles auf dem Anstiege, wo jenes erst seine Vollendung erleben sollte, zur wahren fraulichen Pracht, welche doch die wenigsten schon um Vierzig, die meisten aber, wenn jemals, dann erst um's Fünfzigste erreichen. Tochter, Enkelin, Urenkelin! Die so himmelweit von mir sproßte und in der sich doch dieselbe, immer gleiche Mechanik des Geistes bewegte wie in dir, in mir, im Leser. Die den Anruf vom Fenster her empfing; den konzentrischen Angriff der Stille empfand; die Bereitschaft der glänzenden, geisterhaften Schlachtreihen der Leere fühlte, Regimenter von Kraft, des rechten und rettenden Kommandos gewärtig, das die Örter blitzschnell getauscht, die richtigen Plätze sogleich hätte einnehmen lassen. Aber Mary gab es nicht.
Sie begann alsbald zu kombinieren. Ihre Gedanken flohen nicht nur vor dem ergangenen Anbot: sie packten es nieder, stopften es ein, machten es klein, schnürten es zusammen. Vor allem: nichts hatte sie jetzt darüber in Erfahrung gebracht, wie lange eigentlich Lea in Belgrad bei ihrem Gatten – der's doch noch werden sollte, werden mußte, trotz und trotz allem! – zu bleiben gedenke? Außerdem: wenn in Budapest irgendein Skandal plötzlich losgegangen war – blieb's nicht immer auch denkbar, daß Lea den Generalkonsul in Belgrad gar nicht antreffen, sondern dort zunächst von einer Haushälterin oder Wirtschafterin auftragsgemäß in Empfang genommen werden würde? Mary bedauerte es jetzt tief, Fraunholzer kaum zu kennen! Auch Etelka Stangeler und Grauermann hätte sie wenigstens einmal sehen müssen: das wäre doch vor dem Hochsommer hier in Wien durch Grete irgendwie zu ar rangieren gewesen! Ihr wurde zu Mute, wie einem Landwirt zu Mute wäre, der plötzlich zwischen seinen Feldern große, nie gesehene, nie mit dem Pfluge umgebrochene, nie besäte, nie gemähte Flächen entdeckte: und so etwas wär' bei einem Bauern höchstens im Schlaf und Traum möglich und da aber ganz unaussprechlich schlimm! Hier dagegen: fast war's, als hätte sie in bezug auf diese ganzen Sachen – nicht eigentlich gelebt; oder hinter unsichtbaren Mauern.
Sie begann in dem großen Zimmer auf und ab zu gehen. Aber nicht behaglich wandelnd. Es trieb sie.
Nun: es war, wie es war. Und nachmittags würde man sehen. Den Entschluß bezüglich des zu gehenden zärtlichen Weges hielt Mary fest.
Sogleich auch fiel ihr ein, daß sie für den späteren Nachmittag eine andere Vereinbarung schon getroffen hatte. Der nächste ihrer raschen Schritte, die der Teppich dämpfte, war zum Telephon. Sie lauschte. Der Raum schwieg, die hellen Möbel glänzten. Der Apparat sang, summte, schnappte ab. Nochmals ließ Mary die Scheibe kreisen: um ihren Zahnarzt zu erreichen. Die Nummer war besetzt. Überall im Zimmer drehten sich unsichtbare Wirbelchen auf der Stelle. Hinter dem Ende der Gasse draußen – mit den links und rechts hervorstehenden Autos – hinten, jenseits, über dem Kanal, leuchteten die Bäume noch grün in der Sonne, kaum verfärbt, gar nicht. Jetzt ein kurzer Bahnpfiff, mehr Aufschnaufen war's.
Endlich erreichte sie den Doktor und verschob ihr Erscheinen.
Tennis kam nicht mehr in Betracht für nachmittags. Aber andere Telephongespräche gab es jetzt noch zu führen. Alles mußte geändert werden! Mochte es! Dafür würde sich noch viel mehr ändern und endgültig: bei Lea.
Mary, ohne da weiter umständlich zu überlegen, strebte in bemerkenswerter Weise danach, für den Nachmittag überhaupt nichts anderes vor sich zu haben: da man mit niemandes Pünktlichkeit sicher rechnen
Weitere Kostenlose Bücher