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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Brunnens angelangt.

    Aber, was Melzer vor allem zu erfahren wünschte: wie es zuletzt in Budapest gewesen; und von dem jüngsten und äußersten Wegstück Etelkas bis zu ihrem Untergange – das konnte hier nicht erzählt werden stehenden Fußes, während allemal doch auch wer vorüberging, hinauf oder hinab. Sie verließen die Stiegen. Melzer fühlte sich dabei in einer bemerkenswerten Weise sozusagen der eigenen Taschen-Uhr gegenüber entpflichtet, beurlaubt, wie unter ein ganz anderes Recht gestellt. Sie suchten einen Unterstand, um dieses Schicksalspost-Paket in Ruhe aufzuschnüren und zu eröffnen; und sie fanden ihn endlich auf einer Bank im Park des Liechtenstein'schen Palastes, welches geräumige Grün den Erholung Suchenden dieser Stadtgegend damals noch zugänglich war.
    »Daß den Leuten in jedem einschlagenden Falle nichts anderes einfällt, als wieder einmal eine sozusagen technisch unumgänglich notwendige Ausnahme von den zehn Geboten zu statuieren!« sagte René im Rückblick auf das Ergebnis jener rasch zusammengetretenen Familien-Tagung, während Melzer und er sich eben niederließen. »Diese verflixte SchießbudenExistenz! Auf einmal schnarrt so ein Werkel los, weil's einen Treffer gegeben hat: der Wurschtel zappelt, der Kuckuck ruft, der Hahn kräht. Es ist was los, es ist etwas geschehen. Maßnahmen werden getroffen. Natürlich ausnahmenhafte. In der ganzen Panik ist vor allem anderen einmal jedes Maß untergegangen. Man nimmt's daher, von wo man's halt grad kriegt, und hält sich für vernünftig, weil im Ernstfall überhaupt nichts mehr hält und von irgendeiner Haltung schon gar keine Rede sein kann. Das Leben zeigt die Zähne, der Mensch zieht den Schwanz ein. Dann ist der Wirbel für diesmal wieder vorbei. Und jetzt, wo eigentlich erst etwas, ja alles, geschehen müßte, um für die Zukunft einen derart würdelosen Vorgang auszuschließen, geschieht gar nichts, wird die wiedergewonnene Ruhe nicht als Aufforderung empfunden, sich für den nächsten einschlagenden Krach gründlich vorzubereiten, wird der vorhandene Raum damit nicht ausgefüllt, die gebotene Gelegenheit der sich ausbreitenden Stille und Leere keineswegs benützt: was sonst sehr wohl sogar dazu führen könnte, solche Wirbel überhaupt zu inhibieren.«
       Das letzte Wort lag auf seiner Zunge wie ein von irgendwo, vielleicht aus dem Park hier, angeflogener Keim: ein wohlschmeckender sogar. Er verwunderte sich und schwieg. Seit seiner Abreise von Budapest hatte Stangeler sich darauf verlegt, den eigenen Schmerz gewissermaßen zornig zu behandeln: er stieß ihn hin und her wie einen Punching-Ball. Wodurch nichts besser wurde. Aber René hielt diese Rebellion seines Egoismus' für einen geistigen Akt: und vermeinte sich so von jeder Sentimentalität zu distanzieren. Zugleich (er wäre aber sehr wahrscheinlich grob geworden, hätte man ihm das gesagt) präparierte er sich mit alledem insgeheim für das Wiedersehen mit Grete Siebenschein.
       Nun endlich nahm er seinen Bericht auf:
      »Am Mittwoch abend, ich war eben von Grete gekommen, hat mich mein Schwager, der Baurat Haupt – Sie kennen ihn nicht? Ich wohne vorläufig noch bei Asta und ihm, das ist im zweiten Stockwerk meines Elternhauses – mein Schwager also hat mich gleich im Vorzimmer empfangen mit der Nachricht, daß ich heute nacht noch zu Etelka nach Budapest fahren müsse. Grauermann habe von Budapest telephonisch angerufen, jedoch hier sei ja niemand zugegen gewesen, er selbst im Amt. Daraufhin habe sich Pista mit einem früheren Kol legen auf dem General-Konsulat in der Bank-Gasse verbinden lassen und eben vor einer Viertelstunde sei von dort die Nachricht gekommen: auch, daß ich in der Bank-Gasse jetzt sofort mein Visum erhalten würde. Der Reisepaß selbst war glücklicherweise in Ordnung und noch gültig, alles vom Frühjahr und Sommer her, unseligen Angedenkens. Was eigentlich dort unten in Budapest geschehen sei oder was dort vorging und im Begriffe war zu geschehen, das konnten Haupt und ich weder entnehmen noch zusammenreimen. Mein Schwager äußerte sich zudem kaum. Er war irgendwie verfinstert und hatte wohl seine Vermutungen. Genug, Etelka verlangte dringend nach mir (so verstanden wir es), ich mußte reisen. In der Bank-Gasse, wo freilich längst keine Amts-Stunden mehr waren – ich hab' dem Portier einfach meine Visitekarte gegeben – wurde mir im Bureau sogleich das Visum in den Paß gestempelt, von einem älteren Kanzlei-Organ, das nur für

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