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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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gelüfteter Geruch heute verdumpft war, wie modrig, kellrig oder gummig. Weiter unten auf den Treppen nahm dieser Hauch noch zu, was Melzer eigentlich erwartet hatte, ebenso wie das Offenstehen der kleinen Türe neben der Portierswohnung, so daß man im Vorbeigehen in jene Rumpelkammer oder Werkstatt sehen konnte, wo zwei Fahrräder standen und mehreres Gerümpel; außerdem bemerkte Melzer diesmal eine kleine Hobelbank. Der Zusammenhang, in welchen dieser of fene Raum sowohl, wie dessen auf der Treppe bereits spürbarer Geruch gehörten, war für Melzern derart evident, daß er ihn auch nicht durch den kleinsten Bruchteil einer Sekunde erst zu suchen brauchte: die grünschattige Verschlossenheit des Raumes unterhalb der großen verglasten Holzveranda vor der seinerzeitigen Villa seiner Mutter zu Neulengbach, die dumpfe Laub-Fäulnis, sein Fahrrad dort, ein paar alte Sessel und die in der Ecke lehnenden Gartenwerkzeuge – dies alles bot sich dem Aufruf und Anruf ebenso präsent und parat, wie Astas kleines Zimmerchen im Aquarien-Licht hinter den Jalousien, oder der Gang vor drei Wochen, draußen auf dem Lande, zwischen den Kräuter- und Rosengärten nach rückwärts zum Bache und über das Brücklein, wo er dann auf Asta gewartet hatte. Die bunten Glaskugeln leuchteten.
    Aber, wenn auch kein eigentliches Staunen in ihm war und auch keine Bemühung, sich zu besinnen (diese wäre überflüssig gewesen), der Anhauch brachte Melzern doch irgendwie aus der Richtung oder in eine andere Richtung … hatte er übrigens eine so ganz festgelegte und entschiedene gehabt, jetzt im Verlassen seines Heimes beim ›interessierten Pierrot‹? Da er nun innerlich über einen größeren Zeitraum mühelos gesprungen war, übertrug sich solche Weiträumigkeit gewissermaßen nach außen und rückte ihn ein wenig ab von den klammernden Umständen, den Alternativen, die sich aus ihnen zu ergeben pflegen, von der Taschen- oder Armbanduhr, der Absicht, der Einteilung des Tags. Er wandte sich vom Haustor nach rechts. Also eigentlich auf einen Umweg. Jedoch nur dort kann von einem solchen im strengen Sinne gesprochen werden, wo das Ziel festliegt.
    Melzer trug die schwankende Waage dorthin, wo er in einer ganz abseits aller Vernünftigkeit liegenden Weise ihren Aufhängepunkt und ihr Zünglein vermutete.
    Das Wetter schien ihm warm. Er blieb in dem stillsten Teil der Strudlhofgasse unten vor den Stiegen stehen und sah den vereinzelten Passanten zu, die da hinaufstiegen oder herabkamen, zu ausholendem Quergang durch die Rampen gezwungen, ja zum Wandeln und zum wandelnden Illustrieren dieses aufgebauten Bildes genötigt, verhindert aber an dem Geradezu des froschartigen Sprunges aus einer Absicht in einen Zweck, an dem Sturz durch einen Weg gleich Null auf ein Ziel zu, bei dem in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle eine genaue Perlustrierung ganz den gleichen Wert ergäbe. Solche Frosch-Sprünge, Kurzfälle, solche abscheulich-eilfertige Bewegungen auf der Hühnerleiter grad herab waren hier mit Erfolg inhibiert.
    Der Major erkannte Stangeler erst, als dieser schon die Plattform vor dem Brunnen erreicht hatte.
    Alsbald rief Melzer ihn an und tat ein paar Schritte auf die Treppen zu.
    René war stehen geblieben, an die Brüstung getreten und schaute von da auf Melzer herab.
    Seltsam, sie verblieben so. Als breche herein, was sich in keiner Weise mehr abstützen und aufhalten ließ, als fiele jene nervöse Befangenheit und schülerhafte Geniertheit dahin, welche zwei begegnende Menschen sonst unbedingt verhindert, einander schweigend zu messen: so standen sie hier, der Major unten, der graduierte und lächerliche Doktor oben. Vielleicht war es die Größe des über ihnen hängenden Augenblickes, welche ihnen jetzt ein Ähnliches verlieh, und sie vom Gezwecke und vom Verstecke hinter diesem befreien konnte. Nun kam René herab. Der Major ihm entgegen. In halber Höhe der BrunnenPlattform trafen sie zusammen, Stangeler etwas höher, Melzer etwas tiefer, auf den Stufen nun wieder stehen bleibend.
    »Ich hab' gehört, Sie waren in Budapest, Herr von Stangeler?«
    »Ja. Ich bin heute vormittag in Wien angekommen.«
    »Und wie geht es Ihrer Frau Schwester?«
    »Etelka ist tot.«
    Zufällig ging niemand vorbei. Die Stille stand wie ein Block von Metall in die leere Gasse gestürzt. Melzer, emporsehend, faßte jetzt eigentlich erst recht auf (wozu er doch vor Stangeler's Ankunft mehr Zeit und Gelegenheit gehabt hätte!), daß die Baumwipfel links

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