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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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konnte, zudem ein WartenMüssen in manchen Fällen fast unvermeidlich erschien (beim Arzt etwa), so blieb am besten, sich auf gar nichts einzulassen, was ihr pünktliches Erscheinen in Döbling etwa hätte in Frage stellen können. Während die Vorhaben des Nachmittages solchermaßen zum Teil auch in den Vormittag hereingenommen wurden, wuchs dessen Programm Punkt für Punkt an, wobei Mary ohne Unterbrechung am Telephon hantierte, sprach, wartete, wenn wieder eine Nummer unzugänglich war; und gerade heute wiederholte sich das letztere mehrmals. Ihre Arme sanken dann herab, sie blieb etwas vorgebeugt über das Tischchen mit dem Telephon, und in ihrem Gesicht erschien ein fast trauriger Zug, wie heimatlos in der entstandenen Leere. Endlich, nach erheblicher Zeit, waren alle diese an eine gewisse Reihenfolge gebundenen und mit einander verknüpften Gespräche geglückt (so etwa hätte es keinen Sinn gehabt, zur Modistin zu gehen, ohne die Hutstumpen mitzubringen, von welchen Mary eine ganz bestimmte Art wollte, die ihr ein Geschäft in der Stadt für heute ab drei Uhr nachmittags zugesagt hatte: waren diese aber etwa jetzt schon dort eingetroffen, dann konnte das Erscheinen bei der Hutmacherin telephonisch auf den Vormittag verschoben werden, statt für heute überhaupt zu unterbleiben; Mary liebte es nicht, unerwartet irgendwohin zu kommen, weil das meistens längeres Warten zur Folge hatte; alle ihre Besuche oder Vorsprachen waren stets genau vereinbart, und sie hielt sich pünktlich daran). Endlich konnte sie von dem Telephon-Tisch chen wegtreten, da alles erledigt war, wenn auch nicht durchwegs nach Wunsch. Aber was geschehen konnte war geschehen. Im selben Augenblicke jedoch, am Tee-Tisch vorbeiblickend, sah sie überraschend in jenes Verzeichnis hinein, welches sich knapp vor Lea Fraunholzers telephonischem Anruf geschwind, unbelebt aber übersichtlich, gebildet hatte in dem Vakuum eines während jenen Minuten noch ganz frei erscheinenden Vormittages, der sich inzwischen von anderswo her bis zum Rande gefüllt hatte. Aber Mary wollte es haben und wissen, dieses Verzeichnis: sie verlangte danach, sogar mit einer gewissen Ängstlichkeit. Es gelang ihr die Wiederherstellung nach den am Telephon gehabten Sensationen nicht ohne Mühe. Punkt für Punkt jedoch zog sie hervor aus dem leeren Raume ohne Vorhaben, dessen Mittelpunkt sie selbst zuerst am Frühstückstisch gebildet hatte: alles was, einer Art Gravitation folgend, in jenes Vakuum eingeschossen war. Davon das Wichtigste blieb zweifellos die ›Estudiantina‹ (eigentlich eine große Musik-Gesellschaft spanischer Studenten), deren Generalsekretär zur Zeit in Wien weilte und vormittags im Grandhotel während einer Art Sprechstunde sich antreffen ließ. Schon setzte Mary flink den Hut auf im Schlafzimmer, bald auch eilte Marie herbei, welcher der Aufbruch ihrer Herrin nie entging: es wär' ein Vanille-Stangerl nötig, wenn die Gnädige das vielleicht mitnehmen wollte aus der inneren Stadt? Was die ›Estudiantina‹ anlangte, so war hier Mary, die Mutter, in Tätigkeit: die spanischen Studenten unterhielten eine Art Austausch-Aktion, auch für Gymnasial-Schüler. Neben dem Englischen und Französischen hatte der Bub aus besonderer Neigung auch das Spanische betrieben und es darin bemerkenswert weit gebracht (so neulich sein Lehrer). Mary stieg frisch und flink die Stiegen hinab. Aber sie stolperte einmal über einen Läufer, der aufgewölbt war. Es schien ihr zumindest so, oder sie sagte sich, daß sie über diesen Wulst gestolpert sei. Es mußte sich jedoch nicht unbedingt so verhalten haben, vielleicht hatte sie die Stelle mit dem Fuß gar nicht berührt, sondern diesen sonstwie ungeschickt aufgesetzt, wie man manchmal tut, nicht elastisch und abfedernd, sondern derart, daß fast eine Art Rückprellung und ein kleiner Stoß entstehen.
Wir wollen nicht mit Frau Mary ihre Gänge in der Stadt herunterraspeln.
Es konnte auch nicht alles erledigt werden.
In's Grandhotel etwa kam sie zu spät. Der Generalsekretär war schon ausgegangen.
    Melzer hat an diesem Montag, dem 21. September 1925, etwas vor vier Uhr seine Wohnung verlassen, den Spazierstock mit goldenem Knauf in der Hand. Sogleich als er auf den TreppenAbsatz trat und die Türe von außen schloß – sorgfältig und jedes unnötige Geräusch dabei vermeidend, Ur- und Vorbild eines ›ruhigen Mieters‹ – empfand er eine Veränderung der Atmosphäre im Stiegenhause, dessen sonst immer kalkig-sauberer,

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