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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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ein paar Minuten verschwand, um eine Unterschrift zu holen. Den Kollegen mit welchem Pista von Budapest her gesprochen hatte, bekam ich nicht zu Gesicht, wußte auch nicht seinen Namen. Im Auftrag meines Schwagers überreichte man mir ein Briefcouvert gegen Quittung: es befand sich österreichisches und auch etwas ungarisches Geld darin, mehr als genug. Zudem wär' ich selbst versehen gewesen, ich hatt' eben zur Zeit einiges eingenommen. Daheim packte ich eine kleine Tasche und telephonierte an Grete: sie stellte viele Fragen, ich konnte freilich keine einzige beantworten. So erreichte ich denn ohne eigentliche Eile am Ostbahnhofe einen Nachtschnellzug … Nun hören Sie, Herr Major: jetzt kommt eine Seltsamkeit dieser Reise nach Pest. Es war ja nicht meine erste. Jedoch sie war meiner ersten – heuer im Frühjahr, einige Zeit nach den Prüfungen auf der Universität – in gewisser Hinsicht sehr ähnlich, was das innere Lage-Gefühl betrifft; gar nicht aber meiner zweiten Fahrt nach Budapest im Juni, welche, auf den neuerlichen Bruch mit Grete folgte. Damals war ich steinunglücklich gewesen. Jetzt aber, als der Zug hinausglitt, war mir der Grund bereits sichtbar geworden, auf welchem meine diesmal ganz andere, und trotz der besorgnis-erregenden Umstände so viel bessere Verfassung ruhte. Darauf, merkwürdiger Weise, daß ich im Stande gewesen war, sofort und glatt abzureisen … daß ich in Wien nichts unerledigt zurückließ, keine Versäumnisse oder Angelegenheiten, die eben im Begriffe gewesen wären, zu ›Matthäi am Letzten‹, wie man zu sagen pflegt, noch erledigt zu werden, mit Müh und Not und Ach und Krach … Ich war sozusagen liquid und bereit gewesen. Das befriedigte mich in hohem Grade: daß jene geordnete Leere in mir herrschte, die unumgänglich erforderlich ist, wenn etwas eintreten, in uns wirklich und wirksam eindringen soll. Ich empfand's als einen erstmalig in meinem Leben erreichten Zustand, der freilich weit tiefer noch fundamentiert, ja zum eigentlich habituellen, zum Normal-Zustand werden müßte … Nichts kann hervortreten, plastisch werden, außen klar gesehen mit seiner ganzen Wucht, innen distinkt erkannt werden, wenn es nicht von Leere umgeben und damit gewissermaßen selten oder solitär geworden ist. Im Gedränge gibt's kein wirkliches Leben. Eine Schießbudenfigur zappelt da nach der anderen los, löst sie ab. Ich aber saß, während der Zug auf seine Strecke hinausglitt, schwer besorgt und ganz besonnen in den Kissen des Fauteuils. So fährt man dem Schicksal entgegen. Daß ich's früher nie gekonnt, beweist meine Zurückgebliebenheit, denn ich bin ja weit über dreißig; es beweist vielleicht auch, daß ich gar keine oder nur eine miserable Erziehung genossen habe, die mich jedenfalls mit den Grundlagen oder Grundhaltungen geistiger Disziplin niemals vertraut zu machen versucht hat. Heute ist übrigens Matthäi, des Evangelisten Tag.« Nach dieser unvermittelten Hinzufügung machte René eine Pause.
    Es müßte für's erste angenommen werden, daß Melzers Geduld – denn seinerseits wurde ja ein Bericht erwartet! – durch diese Exkurse – man möchte fast sagen Excesse – Stangeler's in's durchaus Subjektive nicht wenig belastet worden ist, um so mehr als dabei die für den Major beschränkte Zeit verging. Aber nichts dergleichen war bei Melzer der Fall, wie er später wiederholt versichert hat. Im Blicke durch den Garten tief beruhigt, erkannt' er nicht ohne Staunen, daß von ihm hier und jetzt – und sonderlich seit dem gestrigen Sonntag! – voll und ganz erfüllt wurde, was Stangeler als Forderung wortreich vorzubringen für nötig hielt. Der Major hat sich viel später (zu Kursk 1942) dahin geäußert, daß er im Liechtenstein-Park, neben Stangeler auf der Bank sitzend, keineswegs Ungeduld oder irgendeine Gedrängtheit empfunden, sondern ruhig in den Park und auf die alten Bäume geschaut habe und auf deren Geäst vor dem hohen erhellten Himmel, darin gehender Sommer (Sommer zu ›Matthäi am Letzten‹) und kommender Herbst wie versöhnt, umarmt, durchdrungen, im Frieden lagen und die höchsten, feinsten, kompliziertesten Verästlungen der Baumkronen geduldig grundierten, all dies einzelne gleichsam erst ausführend und es doch zusammenhaltend mit sonorem Orgelpunkt. Wenn auch die Zeit verging, eine doppelte Verabredung gabiig sich trennte, zur Entscheidung auffordern wollte: es blieb wie hinter dem Vorhang eines noch unsichtbaren aber umfassenderen Konzeptes, es

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