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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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zeitweise fast vollkommene Schlaflosigkeit falle heute ein ganz neues Licht. Gerade die große Verschiedenheit der in ihrem Organismus seit nun dreißig Stunden wütenden Substanzen mache deren gleichzeitige Bekämpfung überaus schwierig, zum Teil unmöglich. Außerdem habe es Etelka verstanden, zwischen das Einnehmen der Gifte und die Entdeckung dieses Umstandes eine möglichst lange Zeitspanne zu bringen, offenbar vorsätzlich. Am verwichenen Dienstag, gegen Mitternacht, habe sie so etwas wie eine gesunde Schläfrigkeit posiert, ihrem Mann und auch dem Dienstmädchen gegenüber, und dabei in anscheinend guter Stimmung der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß ihr diesmal nach langer Zeit wieder eine Nacht mit wirklichem Schlaf bevorstehe: man möge nur mor gens recht leise sein im Hause und sie keinesfalls vor zehn Uhr stören. Damit verschwand sie in ihr Zimmer: und muß dort, schon im Bette liegend, ›den ganzen Teufel geschluckt haben‹, wie Lala sich ausgedrückt hat. Er sagt, es sei ein fast unglaubliches Quantum gewesen; um es einzunehmen, habe sie mindestens zehn Minuten bis eine viertel Stunde gebraucht. Die leeren Schachteln fand man auf der Platte des Nacht-Tisches. Sie muß alles direkt geschluckt haben, Wasser nachtrinkend, ohne die Pastillen im Glase aufzulösen, welches auch keinerlei Spuren zeigte. Dagegen war die große, ganz mit Wasser gefüllte Kristall-Flasche zu zwei Dritteln leer. Um elf Uhr am nächsten Tage, als sich nichts rührte, lugte das Mädchen vorsichtig durch die zum Spalt geöffnete Tür: sie konnte direkt an's Kopfende des Bettes und auf Etelka sehen. Diese hatte Schaum oder Geifer um Nase und Mund und atmete in flachen, kleinen Stößen. Daraufhin begann das Mädchen zu schreien und zu weinen. ›Die Köchin behielt den Kopf oben‹, sagte Lala, ›rief Pista telephonisch an und dann mich. Daß alles Erforderliche und überhaupt Erdenkliche mit Etelka sogleich vorgenommen wurde, versteht sich ja von selbst. Ich habe mehrere Spezialisten beigezogen, der eine war auf der Universität mein Lehrer in der Pharmakologie. Ich sage dir, René, wenn man das, was deine arme Schwester genommen hat, aus den Packungen zusammenschüttet, kommen bald zwei gehäufte Hände voll heraus.‹
    ›Aber trotzdem‹, hat Lala zuletzt gesagt, ›widersteht noch ihre wahrhaft gewaltige Natur. Jedoch vergebens. Es ist nichts mehr zu hoffen, sei dir darüber im klaren, René. Natürlich versucht man noch das und jenes. Auch heute ist ein solcher Versuch gemacht worden. Es kann mit ihr bis morgen und ganz unwahrscheinlicher Weise bis übermorgen dauern. Aber dann haben wir den exitus.‹
    Er fügte noch hinzu: der Selbstmord Etelkas sei das gerade Gegenbild der typisch weiblichen Selbstmorde, die, wenn sie gelängen, allermeist nur eine über's Ziel hinausgeratene Demonstration darstellten. Aber Etelka habe ganz sicher gehen wollen. Dies sei das Große, aber zugleich das Schauderhafte ihres Falles. ›Nicht zuletzt auch theologisch‹, sagte er. Auf dem Nacht-Tisch sei ein Zettel für ihren Mann gelegen. Wenige Zeilen mit Bleistift, Abschied, eine Bitte um Verzeihung. Am Schlusse, mit Müh und Not noch zu lesen – vielleicht war dies schon bei beginnender Giftwirkung geschrieben? die Worte: ›Nimm Dir eine Frau wie Du selbst bist.‹«
    René schwieg. Melzer sah in die Baumkronen. Sozusagen in's geräumigere Konzept. In ihm war eine ganz selbstverständliche und eben darum ungeprüfte, ja kaum bemerkte Gewißheit darüber vorhanden, daß dieses Zusammentreffen mit Stangeler und die Botschaft, die es brachte, nur eine Art Anfang sei. So etwa, wie niemand um die Frühjahrszeit im Gebirge den fern und feierlich durch die dünne Stille hallenden Schlag einer Lawine hört, ohne weitere ebensolche unbewußt zu erwarten, und niemand den ersten rollenden Böllerschuß am Ostermorgen, ohne die vielen Antworten von nahen und fernen Höfen innerlich schon vorwegzunehmen.
    Auch hier herrschte dünne Stille, trotz des Straßenlärms, der, wenn auch distanziert, doch in den Park eindrang. Es herrschte dünne Stille seit gestern, Sonntag. In ihr, klar abgesetzt, von Raum und Leere umgeben, stand Etelkas Bild, wie Melzer sie zuletzt gesehen hatte: im bunten National-Kleid mit Asta vor dem Postamt, winkend, während der Autobus sich schon in Bewegung setzte um rasch durch das Tal hinunter abzusinken. Das Bild war tief und klar, war bunt und rot, ja wie auf tiefem rotem Grunde.
    Auch Melzer fragte nicht, so wenig wie Stangeler

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