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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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blieb wie in den Falten dieses Vorhangs verrollt, verloren und verborgen. Indessen setzte Stangeler seine Erzählung fort:
    »Der Zug, mit dem ich gefahren bin, ist zu einer ganz unmenschlichen Zeit in Budapest angekommen. Ich bin in Kelenföld erst aufgewacht; von da fährt man weiter um die halbe Stadt herum bis zum Ostbahnhof. Es war noch dunkel. Daß ich schon die Tramway benützen könne, schien unwahrscheinlich. Ich beschloß, am Keleti ein Autotaxi zu nehmen, um in die Vilma királynő út zu fahren. Jedoch an der Sperre, beim Verlassen des Perrons, wurde ich angerufen. Es war ein Herr Ladislaus von P. – ungarisch sagt man Lala – ein Verwandter meines Schwagers, Chefarzt an der größten Budapester Kur anstalt, dem Szt. Lukács fürdő. Ein sehr bemerkenswerter Mann übrigens: ungarischer Baron aus alter Familie, hat ursprünglich Theologie studiert und ist calvinistischer Priester geworden. Schon eine Pfarre innehabend hat er das alles aufgegeben, noch einmal studiert, das Doktorat und die praktischen Jahre gemacht, zum Teil in Wien und sonst im Ausland: gleich danach begannen seine Erfolge als Arzt. Es muß wohl seine eigentliche und wesentliche Begabung gewesen sein. Ich hab' Lala gut gekannt, von meinem Budapester Aufenthalt im Frühjahr her.
    Übrigens hab' ich ihn immer beneidet. Er schien sich sozusagen leicht zu tun im Leben, trotz einer durch das zweimalige Studium und den Berufswechsel etwas komplizierten Biographie: Lala hatte sich obendrein sehr früh, schon als junger Pfarrer, verheiratet. Er schien sich leicht zu tun – sage ich. Bei begabten Ungarn kann einem das schon so vorkommen. Sie sind überaus lebenstüchtig gebaut. Sie besitzen einen Leichtsinn, der genau dort ist, wo er hingehört, und wo wir ihn so zusagen nur als philosophisches Ziel sehen können. Dieser ihr Leichtsinn schließt die größten Anstrengungen keineswegs aus. Das heißt, der Schwerpunkt liegt bei ihnen richtig, von Natur aus … Lala hat übrigens eine gewisse physiognomische Verwandtschaft mit dem berühmten Herrenreiter Teleki; der ist unser Reitlehrer gewesen in der Offiziers-Schule, wir haben ihn sehr geliebt und verehrt … Lala also hat mich an der Sperre angerufen: er war mit seinem Motor-Rad gekommen, um mich abzuholen, vielleicht auch um mich vorzubereiten. Er sah ernst aus, fast finster (ein ungarisches Gesicht kann überaus finster aussehen). Ich kroch etwas steif und mit Mühe in den torpedoförmigen Beiwagen der Maschine. Es war warm hier in Budapest, trotz des frühen Morgens. Lala fuhr rasend schnell und vollkommen ruhig. Über die Donau. Wir bogen rechts ab und hielten vor dem St. Lukas-Bad.«
    Eine Uhr schlug. Melzer sah nicht auf die seine. Zwei Schläge. Vielleicht vom Liechtenthaler Kirchtum. Es war halb fünf.
    »Ich hab' mich bei ihm gewaschen und rasiert, und wir frühstückten zusammen in seinem Arbeitszimmer: er sah mit einem gewissen Nachdruck darauf, daß ich ordentlich zugriff. Speck und Eier. Diese Fürsorge war nicht nur rein gastfreundlich. Sie hatte einen ärztlichen Unterton. Ich empfand das, und als unheimlich. Wir sprachen im übrigen kaum ein Wort. Ich stellte keine Frage. Ich darf sagen, daß es nicht aus Feigheit unterblieb; sondern durchaus, um aus einem herankommenden Umriss des Geschehens kein Stückchen im voraus zu brechen. Es war, während wir hier saßen, erst ganz Tag geworden. Der kaum mittelgroße Raum bildete eine dichte und behagliche Hülse um uns; sie zeigte sich mit sehr verschiedenen Din gen vollgeräumt, die Durchdringung einer Bibliothek mit dem Herrenzimmer eines Jagdhauses: es gab leichte und schwere Gewehre, Geweihe, einen exotischen Büffelkopf, Angelgeräte und lederne Taschen. Es roch nach Leder herinnen. Durch's Fenster sah man ebenerdig in den Garten der Kuranstalt hinaus. Dahinter fuhr eben ein Zug der elektrischen Bahn vorüber. Die vor einigen Minuten aufgegangene Sonne legte einen warm glühenden Reflex über zwei Patronengürtel, welche hoch an einer Hirsch-Stange hingen.
    Er bot mir eine Zigarette an und sagte mir in aller Ruhe alles. Zunächst, daß ich Etelka nicht mehr bei Bewußtsein würde finden und daß sie es kaum mehr erlangen werde. Die von ihr genommene Dosis Gift – aus einer Unmenge der verschiedenartigsten schwersten Schlafmittel bestehend – müsse von Etelka durch Jahr und Tag schon zusammengespart worden sein, dies stehe ihm außer Zweifel, und auf ihre seit langem überall vorgebrachten immer wiederkehrenden Klagen über

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