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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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den Baron P. mit Fragen überfallen hatte, nach der Ankunft in Budapest. Ihm schien es, daß er genug wisse. Kein ›Warum?‹ kam über seine Lippen, kein solches Zeichen nervöser Verlegenheit statt wirklicher Teilnahme. Melzer nahm sein Teil. Er meinte genug zu wissen. Genug Licht war verbreitet worden, rotes Licht. Nur Einzelheiten noch konnten kommen. Mochten sie kommen. Er verstand es zu warten.
    »Wir fuhren zur Klinik. Wieder rasend schnell und ganz ruhig. Die Stadt war um diese Zeit schon dicht belebt. Zunächst war's der gleiche Weg wie vom Bahnhof; auf der Margaretenbrücke kann das Aug' einen ungeheuren Ausfall tun, einen schwindelnden: schwindelnd vor solcher Pracht nämlich. Die durch den Strom aufgespaltene Stadt. Schon war die Morgensonne kräftig da. Budapest hat breite prachtvolle Straßen. Wir fuhren mitten hindurch. Ich sah die Stadt jetzt auf eine Art, als ob sie nicht bestünde und stehe, sondern erst entstünde und geschehe: so schwankte alles und drehte sich in mich hinein an den Kurven, ein Prospekt und Ausblick in den anderen geschoben, eine Kulisse vor die andere und hindurch geworfen, und wieder weggezogen und wieder verdeckt. Dann wurde es öder. Kahl. Vorstädtisch. Kasernen. Rangierbahnhof. Das sind die Ernstfall-Gegenden einer Stadt. Man sieht sie im Kriege, oder wenn jemandem was zustößt. Wir zogen glatt und schnell eine lange Straße mäßig bergan, dann schlug die Kurve nach links ein, wir hielten vor einem großen höher gelegenen Gebäude. Ich sah rechter Hand unten die Bahnstrecke, aber es war eigentlich keine Strecke, sondern nur ein langer tiefer Einschnitt mit vielen Geleisen nebeneinander und darauf abgestellten Waggons: lauter schöne Schlaf- und Speisewagen. Angehaltenes Leben weiterer Bahnen, flüssigerer Art: jetzt stockte es in zahlreichen Strähnen. Der Wagenpark schwang sich nach links herum, unterhalb der Straße, aber ihrer Beugung folgend. Man sah auf die grauen, langgestreckten, endlos hinfliehenden Dächer der Waggonreihen hinab. Genug. Ich erwähne das alles nur deshalb, weil ich's von dem, was weiter folgte, nicht abzutrennen vermag, nie abzutrennen vermögen werde. Das Spital war sozusagen hochmodern, luftig, räumig, breitgängig. Übrigens totenstill. Vor der Türe des Zimmers, darin Etelka lag, stand Grauermann. Wir umarmten einander. Was nun kam, war weit weniger arg wie die Minuten nach dem Frühstück bei Lala, wo mit jedem von ihm gesprochenen Worte ein Block der Unwiderruflichkeit gleichsam von der Zimmerdecke herabgestürzt war. Weniger arg, sag' ich, aus einem ganz einfachen Grunde: es war außen. Es war außen: so wie der Krieg, ein brennendes Dorf, das Gebrüll im Nahkampf mit Kolben und Bajonett, eine Flecktyphus-Epidemie in Sibirien. Es war außen. Es war Schrecken: aber davon faßt die Enge des Bewußtseins immer nur ein kleines Quäntchen; und weil es außen ist, rein außen, bleibt doch stets noch Luft zwischen uns und dem Äußersten im Äußerlichen. Etelka sah genau so aus, wie Lala sie schon beschrieben hatte. Sie lag mitten in dem sehr hellen großen Zimmer auf dem Bett, flach am Rücken, bis zu Hals und Schultern mit einem Leintuch bedeckt. Ich hatte den Eindruck großer Flachheit und Eingesunkenheit ihres Körpers, brettartig. Der Atem ging in eigentlich regelmäßigen Abständen mit kurzen kleinen Zügen. Atmete sie aus, dann erschien um die Nasenlöcher und in den Mundwinkeln eine Art Schaum oder Geifer: die Krankenschwester entfernte ihn von Zeit zu Zeit. Zwei Ärzte hatten eben das Zimmer verlassen. Lala und Pista waren mit mir zusammen eingetreten. Ich bemerkte dann, daß der erstere, am Fußende des Bettes stehend, betete, wobei sein Oberkörper eine Art ringender Bewegung vollführte.
    Genug, mehr als genug. Später ist Teddy Honnegger gekommen. Er redete überhaupt kein Wort. Von ihm hab' ich noch am selben Tage die sozusagen letzte Vorgeschichte erfahren, darauf komm' ich gleich, es ist nicht viel: aber zumindest aus einer unbedingt verläßlichen Quelle. Jetzt also standen vier Mannsbilder um Etelkas Bett. Ich fand das bezeichnend. Sie selbst sah beinah wie ein Mann aus, wie ein begabter, bedeutender sogar. Das Haar war ganz aus der Stirn, die übermäßig erschien. Sonst, wenn sie den Schopf zurückgestrichen hatte, wirkte der untere Teil ihres Gesichts zu schwach, zu rund, zu weich. Jetzt indessen starrte das Kinn etwas empor, machtvoll, wie eine kleine Bastion. ›Der Fünfte muß noch kommen‹, dacht' ich: und hielt für

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