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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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möglich, daß Grauermann den Generalkonsul Fraunholzer gar nicht verständigt hatte. Es verhielt sich so.
    Ich erfuhr es zu spät. Ich verlebte diese Zeit in dem Krankenzimmer wie auf dem unbeweglichen Mittelpunkt, auf der Achse oder dem Zapfen einer sich gleichmäßig drehenden Scheibe sitzend. Ich sah die Sonne vom Fenster vordringen und aus diesem zurückweichen. Ich stand, beiseite getreten, an der Wand oder draußen auf dem Gange, wenn die Ärzte mit Etelka beschäftigt waren. Die Krankenschwester hielt geduldig ein großes Glasgefäß empor, von welchem zwei dünne Röhr chen oder Schläuche herabliefen, deren metallene Mundstücke man Etelka oberhalb der Brust links und rechts unter die Haut gestoßen hatte, ziemlich tief, wenigstens kam es mir so vor. Ich verstand ja nichts davon. Die Brust schwoll, offenbar von der einlaufenden Flüssigkeit. Durch das Fenster konnte man von hier verhältnismäßig weit sehen, nicht in eine Landschaft, sondern auf andere ähnliche Gebäude, wie jenes, darin wir uns befanden. An bleichen Mauern lag ebenso die Sonne. Es war nicht die eigentliche ungarische Sonne, nicht die Sonne des weizenblonden Landes, das ich kannte, seine Kraft, der Quell seiner Lieblichkeit und auch seiner Wucht und Größe. Die Budapester äußerste Vorstadt ist aller Vorstädte äußerster Graus: ist denn nicht doch alles nur Pappe, kann man die Steppe darunter oder die Auwälder des wandernden Stroms nicht doch plötzlich wieder rein hervorziehen?! Etelka hatte in diesem großartigen Lande leben dürfen, das allezeit von allen Seiten herangedrungen war, voll Liebe möcht' ich sagen, und um sie zu seiner Tochter zu machen. Trug sie nicht von Anfang einen ungarischen Namen? Und nun endete sie in dieser Ernstfall-Gegend. Schaum in ihren Mundwinkeln. Bleiche Sonne auf den Wänden draußen. Totenstille auf den Gängen. Man ging hier mittags in ein kleines Beisl essen. Auch Honnegger war bei uns. Wieder schwangen sich die gesträhnten, gekurvten Waggon-Reihen, an die Beugung der Straße gelehnt. Ich bemerkte eine Art verwilderten Park, ohne Zaun oder Gitter, kleine Bäume, Gebüsch, viele Weglein dazwischen. Das Grün teilweise bestaubt. Vielleicht war's ein alter Friedhof. Hierher ging ich von Zeit zu Zeit, das Sterbezimmer und das Spital hinter mir lassend. Ich saß auf einer glattgewetzten kleinen Bank von Stein und rauchte. Es war mein allernötigstes Alleinsein, dieser Garten, meine Zelle, die ich gleichsam hier etabliert hatte. Am nächsten Tage, Freitag, es war der 18. September, vermocht' ich vormittags Grauermann endlich dazu, an Fraunholzer zu telegraphieren. Ich hatte es nicht ohne sein Wissen tun wollen. Nachmittags um drei ist Etelka gestorben.«
    Er pausierte. Die Stadt, durch die Räumigkeit des Parks gedämpft, hupte, rollte, pfiff und jaulte das ›Tutti‹ nach dem ›Solo‹.
    »Am Samstag-Morgen war Fraunholzer da. Man hatte Etelka schon gewaschen und geglättet. Kein Schaum und Geifer mehr; kein Atem trieb ihn mehr heraus. Sie lag jetzt mit dem Kopf etwas erhöhter, wie mir schien. Die Stirn noch immer mächtig frei, aber das Haar gekämmt, geschlichtet. Nun waren wir Fünf! Ich sah Robert am Fußende des Bettes zusammenbrechen, zusammenrumpeln, als hätte man dort einen Sack mit Holzscheitern ausgeleert. Eine ungeordnete Masse, aus der es stöhnte, wirklich wie Hals über Kopf, Arm über Hand. Hinter seinem Weinen stand nachdrückend und gestaut seine ganze, gesammelte große Lebenskraft: durch sie gerade, das fühlt' ich, wurde sein Schmerz so furchtbar. Er raffte sich auf und stürzte aus dem Zimmer. Ich dachte noch, daß es so gerade gut sei: daß er Etelka schon in Frieden und gesäubert sehe, daß er dieses Bild mitnehme und nicht jenes eines zähen, bewußtlosen, aussichtslosen Ringens, die kurzen Atemstöße, das verwirrte Haar. Die Tote sah würdig aus. Sie hatte, wenn auch nicht überwunden, doch alles hinter sich gebracht. Davon sprach ihr Antlitz jetzt. Hätten wir Donnerstag schon telegraphiert, dann wäre sie am Freitag-Morgen von Fraunholzer noch anders erblickt worden. Und bei Bewußtsein hätt' er sie ja so wenig mehr gesehen wie ich oder sonst jemand. Sie erteilte keine Auskünfte mehr. Sie war von Motivierungen dispensiert. Sie hatte die Tat gesetzt. Wir hatten uns abzufinden. Robert reiste am Abend zurück. Ich hab' ihn zum Bahnhof begleitet, er wollt' es so. Nun, hören Sie, Herr Melzer: mir war die Vorstellung seiner Fahrt so sehr schrecklich. Ich wär' am liebsten

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