Die Strudlhofstiege
und gefallen; ja, er vermeinte das Ergebnis der letzten Wochen schlichthin in der Hand zu haben. Und deshalb eigentlich blieb der Major hier durch diese wenigen Minuten noch sitzen: bis fünf Uhr achtunddreißig, wie ihm jetzt ein Blick auf die endlich hervorgenommene Uhr zeigte: unwis send allerdings, daß, vom zuletzt angegebenen Zeitpunkte gerechnet, bei ihm in zwei und einer halben Minute – der Treffer einschlagen sollte. Gleichwohl, viel später, als alles längst vorbei war, und die Schießbuden-Figuren und sonstigen Apparaturen ausgezappelt und sich wieder beruhigt hatten, ist er doch (eigener Aussage nach) in recht bemerkenswerter Weise auf seine erste Meinung zurückgekommen, hinsichtlich des eigentlich Entscheidenden, nämlich für ihn, Melzer, an diesem 21. September des Jahres 1925.
Vom Park ging Stangeler geradewegs zum Bahnhofs-Platz. Dort aber an dem sogenannten ›Stein-Haus‹, darin seine Grete wohnte, ohne Zögern vorbei.
Die Sonne im Rücken. Es war, als schwemmte sie ihn vorwärts. Das Stiegenhaus mit Quasten und Spiegeln und Lift: er empfand es keineswegs mehr als – ›unkonsumierbar‹. Nein, sondern mit Melzern galt es jetzt fertig zu werden. Mit dessen widrigem Frosch-Plumps zurück in die Selbst-Rechtfertigung eines vorhandenen Gefühls, in die Verleugnung von allem, dem dieses Gefühl ja sein Feld erst abgeben mußte: ›Epochen und Entschlüsse‹, wie der Major zitiert hatte, nicht ohne feine Bosheit, so schien es dem René (polemische Konstruktion!?). Und er bedauerte jetzt bitter, sich mit Melzer in ein Gespräch eingelassen zu haben, damals auf dem Bärenfelle, sich mit ihm überhaupt jemals abgegeben zu haben. So schied er sich von dem Major: in Wahrheit ein Melzerischer Mohr, der seine Schuldigkeit zum Teil getan hatte, zum Teil noch im Begriffe stand, sie zu tun. Aber hätte man diesem Herrn von und zu René klarmachen wollen, jetzt und hier, daß ihm keineswegs ein Zentral-Charakter, sondern nur ein diesfälliger Instrumental-Charakter eignete: man wäre da schön angekom men, ebenso wie seinerzeit bei den Bewohnern eines gewissen Filial-Kosmos im Lainzer Tierpark, aus dessen Rotation schließlich ein so überaus grausliches Bild der Malerin Maria Rosanka als Resultat sich losgelöst, ergeben und schließlich seinerseits wieder selbständig gemacht hat (heute noch im Besitze der Familie Schedik).
Und er, René, hatte augenblicklich glatt kapituliert und gesagt: »Ich weiß es.«
Er prüfte die Worte nach, er fühlte sie nach, er hörte sie noch einmal ab. Sie erschienen ihm jetzt doch nicht so dumm. Wenn man jedem auf alles ›ich weiß es‹, oder sonst etwas Unverbindlich-Zustimmendes antwortete; wenn man niemals irgendjemand irgendetwas sagte (und diesem Melzer, diesem boshaften Verräter, war doch im springenden Punkt gedoppelter Damen durchaus nichts gesagt worden! – ein Quell von Trost, von balsamischer Genugtuung ergoß sich bei dieser Vorstellung in eine polemische Brust!); wenn man zudem, auf welchen Bärenfellen immer herumliegend, jedermann auf's äußerste anödete und sich mit größter Geduld gegebenen Falles anöden ließ: setzte man sich nicht in die am meisten geeignete Lage, das, was es wirklich abzumachen galt, bis in's Letzte zu erledigen, ohne von irgendeinem bei der Strudlhofstiege Dahergelaufenen unversehens eine unfruchtbar machende, eine die Spannung vernichtende Gift-Einspritzung versetzt zu bekommen?!
Bei so eröffneten Perspektiven und auf dieser Höhe des Denkens überschlug sich, schon nahe der Brücke, die polemische Konstruktion. Stangeler war neuerlich flott gekommen, und so hörte denn alsbald der Lärm auf. Die Maschinen gingen wieder gleichmäßig und ruhig, die Schrauben, nicht mehr bei sturmgehobenem Heck im Leeren surrend, griffen Wasser und Widerstand, die Fahrt glitt dahin, der Kurs war gewonnen. O gleich-hinschwebendes Schiff!
Wirklich zog eben unter der Brücke mit waagrecht umgelegtem Rauchfang ein Dampfer durch und stromab. Stangeler blieb stehen. Rasch besäumten sich beide Brückengeländer, erst links, etwas später rechts, mit Menschen (die auf das unten durchgleitende Deck des Schiffes hinabblickten). Diese kleine und rasch sich wieder lösende Stauung war's, was René zunächst auffaßte, dann erst ihre Ursache. Wohl um das Schiff besser und näher noch sehen zu können, wandte er sich unwillkürlich nach rechts und begann eine Rampe hinabzugehen, welche hier zur grünen Lände von der Brücke sich senkte. Jetzt erst,
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