Die Strudlhofstiege
als René die breite Straße verlassen hatte, wurde ihm recht bewußt, wie überaus lebhaft der Verkehr hier war, der Stunde entsprechend, welch ein Gewimmel von Menschen und Getute der Fahrzeuge da herrschte: dichte Haufen zogen oben dahin, auf die andere Seite des ›Donau-Kanales‹ hinüber.
Der Dampfer war jetzt unter der Brücke hindurch, schnitt mit dem Vordersteven das grüne Wasser, kam breit hervor und zog an der Lände entlang, während René einige eiligere Schritte zu dieser hinunter tat. Thea Rokitzer hingegen kam eben über die Treppe neben dem Stationsgebäude drüben auf der anderen Seite der Brücke ganz langsam von der Lände herauf. Den René hätte das wahrlich nicht interessiert, und er hätte wohl auch den Ausdruck ihres Antlitzes kaum aufgefaßt oder gedeutet, soweit da von Ausdruck gesprochen werden kann: es war viel Schmerz und Trauer, ganz bloßliegend und hinausfallend, nichts mehr drum herum. Sie ging an der Station vorbei und wandte sich gleich noch einmal nach rechts, weg von der wimmelnden Straße.
René blieb im ganzen nicht viel über fünf Minuten dort unten stehen. Der Dampfer, von rückwärts klein und zusammengedrückt aussehend, näherte sich der Wendung des Fluß-Laufes. Gegenüber, jenseits des nun wieder leer ziehenden Wassers, standen Reihen von Fenstern in Weißglut des Widerscheins, da und dort schon gerötet. Er rang noch einmal kurz und hart mit Melzer.
Und empfand plötzlich wieder Liebe zu ihm.
Hier, wie ausgesetzt, ganz abseits stehend, auf diesem leeren befremdlichen Rasen, nahe der Böschung und dem Wasser. Natürlich gab es keine ›Epochen und Entschlüsse‹. Alles blieb gleich und unveränderlich.
Aber eben diesem galt es ganzen Gewissens zu genügen. Schon wich der Schütze vor dem Ziel ein wenig zurück. Der Bogen spannte sich. Jetzt sprang der rote Ring in einen Abgrund von Schwarz, die Mitte aber glühte rosig auf. Vielleicht wäre unser Stangeler länger als fünf Minuten noch hier geblieben. Aber ein sich ändernder Lufthauch brachte nun plötzlich einen kalten, kellrigen Dunst, der tatsächlich, und nicht nur figürlich, unter der Stadt selbst hervorkam. René sah plötzlich, wo er stand, faßte auf, wohin einige abwesende Schritte ihn geführt hatten: hier war die Ausmündung eines großen Sammelkanales, das gemauerte unterirdische Bett jenes Flüßchens, das seit weit über fünfhundert Jahren ›die Als‹ genannt wird: jetzt leer und trocken. Die Wasser ergossen sich, zur Zeit umgeleitet, weiter oben in den Strom. Aber dieser sehr saubere und geräumige Zugang, ein riesiges, ladendes, beschreitbares Tor in den unbekannten Bauch der Stadt – man konnte ein gutes Stück hineinsehen, wie in einen Saal – entließ einen kalten, schwachen, jedoch so überaus niederschlagenden Geruch, daß die von Melzer, nach Stangeler's Meinung, boshaft verspritzten Gifte dagegen als reine Stärkungsmittel sich ausnahmen. René sah auf diesen breiten Mund einer ihm unbekannten aber offenbar in sich geordneten Welt: und, seltsam genug, der peinlich ernüchternde Anhauch war ihm willkommen. Denn durch Sekunden fühlte er sich jetzt solchem Gegengewichte gewachsen, dessen kalter Brodem eine bloße Illusion wohl mühelos erdrückt hätte. Nun, genug! Er stand hier so lang vielleicht als man bis zehn zählt. Dann verließ er – wenn auch nicht, wie einst, mit ein paar Sprüngen – diese Schlucht und schritt rasch die Rampe empor. Zu der wimmelnden und tummelnden Straße. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, daß es sieben Minuten nach halb sechs geworden war. Hier nun schnell vorwärts zu kommen, erwies sich als nicht so ganz nach Belieben möglich: auf dem sehr belebten Gehsteige mußte René sich freilich den anderen Passanten ein wenig anpassen … Als er sich dem ›Stein-Haus‹ näherte, verließ das Portal eben in derselben Richtung, in welcher Stangeler ging, rasch entschreitend, eine Dame in dunkelblauem Kostüm, deren Gang mit dem Gretes irgendeine Gemeinsamkeit hatte. Er schaute ihr durch eine Sekunde nach, wurde heftig von dem Gedanken an Grete ergriffen und betrat im nächsten Augenblicke eilends das Haus.
Gegen ein viertel vor fünf Uhr hatte die Pichler ihren Plan in's Werk gesetzt, den Major, wenn er nach Amts-Schluß hierher an die Lände käme (woran sie gar nicht zweifelte), Thea allein vorfinden zu lassen.
Sie eröffnete also dem Lämmlein, daß sie nun nach Hause gehen müsse, weil ihre Kleine sonst allein wäre. Die Tante Therese, bei der
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