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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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daß ihr gegebenenfalls das Kind abgesprochen und genommen und dem Vater zur Erziehung übergeben worden wäre: obgleich man das nicht als ganz sicher ansehen darf. Wenn sie nur hätte kämpfen wollen! Aber sie wollte nicht mehr kämpfen. Dennoch hat sie sich wie wahnsinnig davor gefürchtet, den Buben zu verlieren, so hat Honnegger erzählt …«
    Stangeler schwieg. Melzer setzte eine geordnete Zwischenbemerkung:
    »Und dafür lieber dem Kinde die Mutter ganz genommen.«
    »Sie haben vollkommen recht«, erwiderte René und langte in die linke Brust-Tasche seines Jacketts. »Nun hören Sie, Herr Major: Ich habe heute vormittag, als ich, vom Bahnhofe kommend, mein Zimmer wieder betreten hatte – ich gesteh' es offen: wie Festland und Heimatboden nach stürmischer Fahrt! – dort auf meinem Arbeitstisch einen Brief Etelkas an mich vorgefunden. Es war ein wirklicher Chock, was ich fühlte. Die Tote sprach mich da noch einmal an. Dieser Brief ist von Etelka am Nachmittag jenes Tages abgesendet worden, an dessen spätem Abend sie den Selbstmord begangen hat. Beachten Sie das Datum, Herr Major«, setzte Stangeler noch hinzu, »es ist nur aus dem Poststempel zu entnehmen, der Brief selbst trägt keines.« Er hatte Melzern indessen das Schreiben gereicht; einen zweiten Brief, welchen René mit jenem Etelkas zugleich aus der Tasche gezogen, behielt er in der Hand.
    Der Major nahm das Couvert. Dabei fiel sein Blick auf Renés Armbanduhr. Er konnte deutlich sehen, daß sie auf fünf Uhr und elf Minuten wies. Das Schlagen der ganzen Stunde war offenbar in zufällig gerade anschwellendem Straßenlärme untergegangen, auch hatte ja Stangelers Erzählung die Aufmerksamkeit an sich gezogen. Für Melzer blieb dieser Umstand der sehr vorgeschrittenen Zeit ganz außen, am Rande, peripher. Im Gravitations-Feld von Ereignissen befindlich, deren Gewicht, wie ihm schien, weit überwog, fühlte er sich durch dieses zugleich voll entschuldigt und vermeinte ohne weiteres, daß solche Entschuldigung auch überall anderwärts müßte plan verständlich sein. Er zog den Brief aus dem Umschlag. Es waren zwei Blätter, mit kugeliger Schrift in weit auseinanderfallenden Zeilen bedeckt. Nun las er:

    ›Lieber René,
Deine lieben Worte taten mir sehr wohl! …‹

    »Sie hatten ihr noch geschrieben?« fragte Melzer. »Ja«, antwortete Stangeler. »Acht Tage vorher etwa.«
    »Das ist gut«, sagte der Major, »sehr gut. Und, sehen Sie, Etelka hat Ihrer noch am letzten Tage gedacht.« Er las weiter:

    ›… Küsse das Gretlein von mir, all die Zeit habe ich mich so sehr gefreut, sie dort in Wien zu haben, jetzt weiß ich nicht, was sein wird. Grobe, plumpe Spießer griffen in ein heikles, kompliziertes Stück Leben – und zerstampften mich.‹ 
    ›Imre ist unglücklich und machtlos, ihm fehlt jede brutale Kraft. Er ist eine weiche Künstlerseele, man hat ihn moralisch erschlagen. Aber ich habe neununddreißig Jahre auf ihn gewartet …‹

    »Wie alt war Ihre Schwester?« fragte Melzer. »Neununddreißig«, sagte René.

    ›… und ich war zum ersten Mal im Leben restlos glücklich. Ich hatte den Gefährten gefunden. Er war schon durch die Angst vor dem Abschied wie wahnsinnig, wie Lala sagt, in pathologischem Zustand – so entließ er mich eines Nachmittags, ging zu seiner engherzigen Gattin, sagte ihr alles. Großer Skandal die Folge, Mutter, Bruder, Schwager, alles wurde telephonisch mobilisiert, er war von je isoliert unter dieser soliden Bürgerwehr; die Kinder erwachten, weinten, die Frau wollte auf und davon, er gab nach, gab sein Ehrenwort. –‹
    ›Jetzt schreibt er mir: »ich gehe hart am Rande einer Kluft mit wankenden Schritten« – ich auch, René! und daß Pista mich gnadenhalber bei sich behalten will, das ertrag' ich nicht. –‹ ›Ich sage wie Imre mir schreibt: »alles, was mich umgibt ist bitter fremd, kalt und abgrundtief.« – Es ist nicht richtig, daß mein Leben zerbrochen ist – es ist nur so sehr schwer zu tragen.‹
    ›Sei mit Gretlein innig umarmt. Tut Euch nicht unnötig weh, Kinder, das ist alles Wahnsinn, solange ihr Euch liebt, seid glücklich!
    Eure Etelka.‹

    »Das Letzte ist ohne Zweifel die Wahrheit«, bemerkte Melzer nach einigen Augenblicken. »Hier bedarf s keiner Epochen und Entschlüsse, René.«
    »Ich weiß es«, sagte Stangeler.
    »Übrigens glaube ich nicht, daß dieser Brief an jenem Tage geschrieben wurde, an welchem Ihre Schwester – die Tat begangen hat. Er ist nur Dienstag noch

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