Die Strudlhofstiege
leide unsagbar. Wenn Sie in Ihr Innerstes hineinschauen, müssen Sie eingestehen, daß ein perverser Gedanke dabei war, daß Sie einen zu guten Mustermenschen und Familienvater zu Ihrer Zerstreuung ausgewählt haben …‹
Die Unterschrift war bloß in Anfangsbuchstaben gesetzt. Melzer, der den Brief immer schneller gelesen und zuletzt nur mehr durchflogen hatte, reichte ihn Stangeler jetzt zurück: René steckte das Schreiben, zusammen mit jenem Etelkas, wieder in die linke Brusttasche und erhob sich. Der Major schwieg. »Ich nehme an«, sagte Stangeler, vor dem Major stehend – und er konnte unbehindert sprechen, denn sie waren allein geblieben auf dieser Bank, nicht einmal in der Nachbarschaft saß wer auf den Sesseln oder Bänken – »ich nehme an«, sagte er, »Sie denken hier das gleiche wie ich?« »Und das wäre?«
»Daß diese Frau vollständig recht hat. Wie?« (Melzer nickte). »Die Auslassungen in bezug auf Dämonie oder absolute Schlechtigkeit, die Etelka bewegt hätten, gerade den armen Imre als Opfer ›auszuwählen‹, und den ›perversen Gedanken‹ im Innersten – das alles wollen wir ihr gerne zugute halten. Sie mußte den Gegenstand ihres Hasses wohl noch hassenswerter machen, um besser hassen zu können. In der gewöhnlichen Dialektik nennt man's eine polemische Konstruk tion. Und so verleiht die Frau von G. der armen Etelka ein diabolisches Format, von dem die sich nie hat etwas träumen lassen. Aber sonst fällt dieser Brief wie ein Stein, und kein Einwand kann ihn aufhalten.« Er reichte Melzern die Hand und ging, den Hut lüftend, etwas unvermittelt und beinahe brüsk durch den Garten ab.
Der Major sah ihm nach und dann – nicht auf seine Taschenuhr. Wäre René geblieben: Melzer hätte sich seinerseits erhoben und davongemacht: so elementar und alles und jedes beiseiteschiebend war in ihm ein einziges Bedürfnis: allein zu sein. Er nahm rasch sein Etui aus der Tasche und zog, vorgebeugt sitzend, den Rauch einer Zigarette mit Gier tief in die Lungen. Immerfort verharrten beide Briefe in ihm anwesend. Wodurch, womit? Durch ihren Inhalt? Bei weitem nicht. Sondern durch ihre Sprache. Es war die gleiche, ob nun in dem letzten Brief, den die Verstorbene noch geschrieben hatte, oder in jenem, der an sie, und zu spät, gerichtet worden war; es war die gleiche Tonart, mochte auch der zweite Brief eine Ausländerin zum Urheber haben; nicht seine Fehler machten ihn falsch; der Etelka's war's ebenso; er war's gleichsam in letzter Stunde: und da hatte sie gewagt, eine solche Sprache zu führen! Aber ein Drittes drang jetzt heran, und schon war damit aus einer weiter nichts besagenden Flachheit und Fläche ein Raum erstellt mit drei Dimensionen: ein Drittes und noch weit Greulicheres kam hervor und herauf, genau, als wär' es auf einer Wachsplatte aufgenommen worden vor nun vier Wochen:
»… die Etelka, also Renés Schwester, war übrigens von der Grete Siebenschein sehr entzückt und hat sich mit ihr gut verstanden, aber erreicht haben sie bei ihr nichts, und sind also mit der Unglückspost für René wieder hinuntergefahren. Nebenbei bemerkt, soll es bei Grauermanns auch schon lange nicht mehr stimmen, da sind irgendwelche ganz schwere Geschichten. Sie liebt einen anderen, glaub' ich …«
Da hörte er sich selber, Melzer, Major. Die fehlende dritte Dimension zu den beiden Frauen und ihren Briefen. Er starrte gleichsam seine eigenen Worte an, ja nicht einmal so sehr diese, als den erstaunlichen Gedächtnis-Akt, der sie jetzt grausam und unerbittlich aus dem Flugsand verronnener Tage hob. Sein jüngstes und fortschrittlichstes Organ stieß hier auf seine zurückgebliebenste Stelle. Er begriff sogleich und mit einem einzigen Schlage, daß diese Sprache, wie sie ihm mit Etelka Grauermann oder Frau von G. durchaus gemeinsam gewesen war, zugleich einen Raum erstellte, in welchem allein all solche Fragen und Konflikte, ja, einschließlich von Ehebrüchen und Selbstmorden, überhaupt möglich wurden. Auch er hatte diese Sprache gesprochen, diesen Raum bewohnt und belebt: wenn er auch schon ihn zu verlassen bereit gewesen war; jedoch in einer verkehrten Richtung: nämlich auf einen Toten zu.
Hart außen, am Rande dieses Raums um Melzer, schlug es jetzt mit zwei Schlägen halb sechs.
Noch immer begleitete ihn die Vorstellung, Editha oder Thea ja alles erklären zu können.
Jedoch im Grunde hielt er die Entscheidung des Tages (den niemand vor dem Abende unterschätzen soll!) schon für gekommen
Weitere Kostenlose Bücher