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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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abgesendet worden. Sie kann ihn ebensogut früher verfaßt haben.«
    »Ja. Ich dacht' es selbst schon. Denn die Trennung von Imre ist bereits in der vorhergehenden Woche erfolgt. Dies weiß ich von Lala.«
    »Wären Sie, René, sofort nach Budapest gefahren, wenn Sie diesen Brief ein paar Tage früher erhalten hätten?«
    »Nein«, sagte Stangeler mit einiger Härte, »ich wäre nicht gefahren. Obwohl bei mir persönlich Ordnung herrschte. Eine Stelle des Schreibens allerdings hätte mir bedenklich erscheinen müssen. Nicht etwa ›ich gehe hart am Rande einer Kluft …‹ (Er zitierte aus dem Gedächtnis, ohne Melzern den Brief aus der Hand zu nehmen) oder ›alles … ist bitter fremd, kalt und abgrundtief.« Sondern dieser Satz: ›es ist nicht richtig, daß mein Leben zerbrochen ist …‹«
    »Stimmt«, sagte der Major, und gab ihm den Brief zurück.
    Stangeler reichte ihm den zweiten. Es war fünf Uhr und fünfzehn Minuten geworden. Im Park zog die schrägere Sonne gleichsam alles schief, fädelte es auf, kämmte Wipfel, Rasen und Wege mit immer mehr gleißenden Strähnen. Melzer betrachtete den länglichen violetten Briefumschlag, welchen rückwärts Monogramm und Krone zierten, die ungarische Schreibweise der Adresse – ›Nagys. Grauermann Istvànné úrnőnek‹ – die Marke zu acht Fillér mit der Stephanskrone, und ganz zuletzt eigentlich die Schrift (an ihr war durchaus nichts besonderes). Aus dem Poststempel ging klar hervor, daß der Brief am Mittwoch, den 16. September, abgesandt worden war, gegen 11 Uhr vormittags: also recht genau eigentlich um die Zeit, da Etelkas Zustand von ihrer Bedienten, welche durch den Türspalt in's Schlafzimmer gelugt hatte, war entdeckt worden. Nun zog der Major das Doppelblatt aus dem Umschlag. Er las. In einer ganz unvermittelt bei ihm gegenwärtigen Hochempfindlichkeit entging ihm keiner der grammatikalischen oder orthographischen Fehler, welche dieser ungarischen Dame, trotz ihrer bemerkenswerten und flüssigen Kenntnis des Deutschen, freilich leicht hatten unterlaufen können, angesichts des Zustandes von Schmerz und Aufregung, der sie beim Schreiben beherrscht haben mußte: dessen ein Zeugnis bildete der ganze Brief. Aber für Melzer waren diese kleinen Fehler mehr: nicht nur ein Versehen, sondern gleichsam Teilchen vom Geschehen, die dessen Tonart, in welcher es eben jetzt sich abspielte, genau so enthielten und mitbestimmten, wie die Zurückgezogenheit im Grünen hier, die schrägere Sonne, der gedämpfte Straßenlärm, und Renés vorrückende Armbanduhr. Jetzt noch und nachträglich, vor dem Umblättern, las Melzer am Kopfe des Bogens: Budapest, den 15. September 1925. Dieser Brief hatte also eine Nacht gelegen vor dem Absenden. Es war ›überschlafen‹ worden, wie man zu sagen pflegt.

    ›Gnädige Frau,
    ich glaube der Teufel führt meine Hand und flüstert mir die Worte zu, ich weiß gar nicht ob ich gut oder schlecht handle – einerlei, diese Worte müssen geschrieben werden. Ich hätte Sie aufgesucht, nur fürchtete ich mich, daß ich eine Dummheit mache, ich bin nämlich zu sehr temperamentvoll. Hören Sie mich ruhig und gefaßt an, denn mein Schreiben ist eine Anklage.‹
    ›Meine Existenz war strahlend, ich war eine von Allen verwöhnte Frau, energisch, die ihr Lebensweg genau vor sich sah. Alles hat eine schöne Liebe, eine gegenseitige Anbetung ausgefüllt, eine große Harmonie bestrahlt; mein Mann war mein Alles, von meinem 15ten Lebensjahre an. – Sie sind wie ein Dämon in mein Leben aufgetreten, ein »Desperado«, egoistisch und rücksichtslos. Sie haben meinen Mann hinuntergerissen in Ihre Lügenwelt, Sie haben ihm verleitet, daß er mich betrügt‹ (Melzer begann rascher zu lesen, weil er an die Schrift jetzt schon gewöhnt war, und zudem wußte, was da noch kommen konnte), – mich, die er elf Jahre lang nicht belogen hat. War das eine absolute Schlechtigkeit, die Sie bewegt hat, gerade ihn auszuwählen? Ihnen war ja egal wer, nur ein Mann mußte sein – dazu habe ich Grund es zu sagen – der Ihnen die leeren Nachmittage auszufüllen hilft. Ist Ihnen denn nie eingefallen, daß während Sie ihm bei sich haben, eine arme Frau in der schwersten Weise mit dem Leben kämpft und ihren Mann nach Hause sehnt? Und daß dieser Mensch in Ihren Armen geistig ferne sein muß? Sie müssen eine außerordentlich große Energie besitzen, gnädige Frau …‹

    Es kam weit stärker noch. Dann hieß es unter anderem:

    ›… Ihr Werk ist gelungen – ich

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