Die Strudlhofstiege
blieben die Stufen leer.
Von ihnen erwartete sie eigentlich alles. Und da erschien es ihr ganz plötzlich als sehr unwahrscheinlich, als grausam unwahrscheinlich, daß dieser graue Stein sich gerade in der von ihr ersehnten und erwünschten Weise würde beleben. Nein, dies konnte ja gar nicht sein. Was waren denn das für Wünsche!
Aber sie blieb wie festgefroren hier, oder als wär' sie ein Stück in den Boden eingesunken. Durch eine lange Zeit. Ihr Warten war längst nicht mehr fein und süß schneidend, flüssig und flüchtig zugleich, wie ein freudevolles Warten sein kann, das nicht zu lange und nicht in die drohende Vergeblichkeit hinein dauert. Sie stand wie angepflockt. Ihr Warten war dumpf und stumpf geworden. Sie rührte sich unter dieser schweren Decke, sie versuchte es: zunächst vergeblich. Das Gewicht ihres eigenen Körpers schien sich immer mehr nach unten zu sammeln, es ummauerte den Fuß.
Endlich, als sie die Menschen am Brückengeländer stehen und voraus auf den Strom schauen sah, wandte sie sich um. Langsam kam ein Dampfer gezogen, noch klein, noch breit, noch zusammengedrückt. Sie schaute ihm entgegen, sah dahinter über dem Fluß die dreimal sich wölbende geöffnete Wellung der Berge. Links ein vielstöckiges einzelstehendes Haus, das in den waldigen Schwung schnitt. Zwei Fabrik-Schornsteine. Der Dampfer kam heran, er schien sich jetzt auszustrecken. Nun ging Thea mit ihm. Einen Augenblick war ihr, als hätte sie die eigene Last auf das Schiff geladen, welches Dumpfheit und Schmerz davontrug und unter der Brücke hindurch: aber es wies sie ab, es ließ ihr das Ihre. Schon konnte sie das breite weiße Heck erblicken. Über die Treppen hinaufgelangt – und jetzt, in Bewegung geraten, hatte sie auch auf ihr Ührchen gesehen – wandte Thea sich erschöpft und betäubt ab von dem Gedränge und aller Schaulust der vielen Menschen, die unaufhörlich auf die Brücke hinaus strömten. Sie verließ auch die breite Straße, ging ein Stück längs des Bahn körpers und dann links zwischen die Häuser hinein: eigentlich leer hinein in die eigene Leere und, als von einem letzten noch nicht gerissenen Faden, geleitet von der Erinnerung an ein einstmaliges, auch fast verzweifeltes Gehen hier in der gleichen Gegend.
Zur selben Zeit etwa, als Paula Pichler ihr Lämmlein an der grünen Lände festband, um dann davon zu gehen, stand Grete Siebenschein vor der Tür der leeren elterlichen Wohnung (der Doktor hatte seine Kanzlei heute schon geschlossen und auch sonst war jedermann ausgegangen). Sie betrachtete einen Zettel, den sie eben mit zwei Reißnägeln hier festgemacht hatte. Darauf stand: ›L. R.! Wenn niemand öffnen sollte, warte, bitte, hier. Ich komme gleich.‹ Grete hatte die deutliche Empfindung, daß Anlaß und gegenwärtige Lage im Grunde wenig geeignet seien für die Durchführung gewisser Absichten, welche im Filial-Kosmos des ›Lainzer Tiergartens‹ in ihr aufgekeimt waren. Ja, sie hat später einmal (Frau Mary gegenüber) zugestanden, daß ihr Verhalten – es blieb übrigens nur ein innerliches, ein bloßes Planen, Dichten und Trachten – vor dem Wiedersehen mit René nach seiner Rückkehr aus Budapest ihr selbst als recht mühsam, ja als sozusagen dilettantisch erschienen sei. Und obendrein als jetzt gerade nicht eben angebracht. Es war also ein unangebracht angebrachter Zettel. Jedoch, einmal mußte schließlich zur Realisierung gewonnener Einsicht geschritten werden, auch wenn immer neue Gründe oder nur Vorwände von Fall zu Fall die Gelegenheit als eigentlich nicht gegeben erscheinen ließen!
Sie betrachtete daher durch wenige Sekunden noch den an die Türe gehefteten Schriftsatz und stieg dann (in irgend ei ner Weise trotz allem befriedigt) biederen Gemüts ein Stockwerk höher, um an der K.'schen Wohnungstüre zu klingeln. Frau Mary, die nach Tische diesmal geschlafen hatte – und zwar einem unabweisbaren Bedürfnis nach Ablösung von allem und jedem folgend, daher rasch wie ein Stein versinkend, wie in einer umschließenden engen Kammer, tief und fest – Frau Mary also hatte sich vor einer halben Stunde erst erhoben und war bald mit den Vorbereitungen ihrer Expedition nach Döbling-Nußdorf beschäftigt. (Genauer eigentlich: Unter-Döbling – dort lag die große Küffer'sche Villa; Mary hatte wohl die Trambahn nach Nußdorf zu nehmen, jedoch nicht bis dahin, sondern früher schon umzusteigen.) Jetzt eben, nach dem sozusagen zweiten Morgen, den jeder Nachmittags-Schlaf
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