Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
Vom Netzwerk:
das Kind jetzt sich befinde, müsse heute um fünf Uhr fortgehen und habe Paula gebeten, rechtzeitig daheim zu sein, um den Schatz von ihr zu übernehmen. Das habe sie, Paula, am Samstag nicht bedacht oder eigentlich noch gar nicht gewußt.
    Sogleich wollte Thea mitgehen.
    Oder Paula möge hier bleiben, und sie würde bei ihr daheim auf das Kind aufpassen.
    Aber die Pichler trieb ihr Lämmlein mit sanfter Macht auf die von jenem zu innerst ersehnte Herzensweide. Ja, kraft ihrer Autorität pflockte sie es dort einfach an, hörte wohl noch aus einiger Entfernung das gute Tierchen bäh-bäh schreien, ging aber, davon ungerührt, beruhigten Sinnes ihres Weges und davon.
    O Lämmlein auf der Weide! Auf dem grünen Ufer-Rasen! Gegenüber, etwas weiter oben am Flusse, hatten ein Karussell und Schaukeln sich etabliert. Es war ein Karussell von jener Art, dessen hohe, sich drehende Spindel von kleinen Sitzen umflogen wird, welche mittels langer Drahtseile oder Ketten an dem Kranze hängen, der die Spindel krönt: dreht sich diese rasch und rascher, dann hebt die Zentrifugalkraft alle fliegenden Fauteuils mit ihren festgeschnallten Insassen immer höher empor über den Köpfen der Zuschauer, bis nah an die Horizontale. Geht's am Schlusse langsamer und langsamer, so senkt sich die ganze Gesellschaft gleichmäßig herab, bis die Dinger wieder senkrecht hängen wie vorher und man auf die kreisförmige Laufplanke aussteigen kann, wenn die Spindel stillsteht. Schon drängen die neuen Fahrgäste heran. Immer wieder drehte sich das dort drüben, die kleinen bunten Punkte flogen rundum, stiegen noch weiter hinaus, senkten sich allmählich, bis alles wieder stand. Stumm. Vereinzelt nur trug ein sich ändernder Lufthauch zerrissene Rufe von mechanischer Musik schwach herüber. Nun drehte sich's. Nun stand es wieder. Die Längen und Pausen waren fast genau gleich. Es herrschte drüben, jetzt um Feierabend, ein niemals unterbrochener Zustrom von Gästen, und ein laufendes Bedürfnis ward in immer neuem kreisförmigem Fluge befriedigt.
    Die Tätigkeit der bootsförmigen Schaukeln aber sonderte das Auge erst bei genauerem Zusehen aus der nicht unbeträchtlichen Menschenmenge. Dann und wann sah man den Boden eines hoch emporfliegenden Kahns.
    Alles das sah Thea.
    Nun drehte sich's wieder.
    Nun stand es.
    An der Böschung zum Wasser, die hier von Hausteinen war, und in Abständen Treppen wies, saßen da oder dort vereinzelte Menschen.
    Während sie auf das gleichförmig wechselnde Umwirbein und Stillstehen dort drüben blickte, rann in Thea ganz ohne ihr Zutun eine recht genaue Überlegung zusammen, deren Ergebnis ihre ganze Lage hier gleichsam auf einen engeren Raum zusammendrängte und von diesem abhängig machte: Melzer konnte nur über die Treppe neben dem Stationsgebäude herab auf die Lände kommen. Der ansteigende Bahnkörper bot hier auf eine lange Strecke weder Übergang noch Durchlaß. Sie wagte es nicht, den Blick jetzt ganz und gar auf diese Treppe einzustellen (als fürchtete sie, ihn dann nicht mehr abwenden zu können, als könnte dort gleichsam eine Falle zuschnappen, die ihn fangen und festhalten würde).
    Schon als sie mit Paula den Arbeitern auf der Gleis-Anlage zugesehen hatte – diese Strecke wurde damals eben elektrifiziert und nicht viel später neu eröffnet – war ihr bewußt geworden, daß die Straße drüben von der Lände hier durch die zum Viadukt emporführenden Geleise vollständig getrennt blieb.
    Melzer mußte über die Treppe kommen.
    Thea aber wandte sich dieser nicht zu; sie blieb vielmehr hier, in erheblicher Entfernung davon, stehen, zum Wasser gewandt, den Blick auf dem gleichmäßigen Wechsel von Ruhe und gleichbleibender Bewegung dort drüben. Dann tat sie ein paar Schritte über steinerne Stufen hinab. Quirl und starkes Rauschen waren unten zu sehen. Aus einem Stollen schoß gepreßt ein mächtiger Bach in den Fluß. Es gab weißen Schaum.
    Sie ging wieder hinauf und jetzt gegen das Stationsgebäude und die Treppen. Die fünf Schläge, welche von irgendeiner Kirchturm-Uhr schon vor einer Weile waren zu hören gewesen, hatten Thea nicht betroffen gemacht, sie hatte auch nicht auf ihr eigenes Ührchen gesehen. Nun aber begann sich allmählich die Zeit zu spannen zwischen jenem schon fixierten Punkte und dem vorwandernden Jetzt.
    Sie schaute auf die Treppen, welche selten jemand beschritt. Ein oder das andere Mal erschrak sie, wenn von der Straße ein Passant sich ablöste und herabwandte. Meist jedoch

Weitere Kostenlose Bücher