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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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blieb keine Zeit mehr, ihr den Weg zu vertreten und sie aufzuhalten. Schon hatte Thea die Türe zum Stiegenhaus hinter sich zugeschlagen.
    Sie trappelte. Sie sank schnell und schneller die Treppen hinab, ihre Tasche unter den Arm gepreßt. Vom Haustor gleich nach links. Auf dem Gehsteig kamen drei Männer, zwei in kurzen Überröcken und mit Ledergamaschen, die sich mit einem uniformierten Polizeibeamten unterhielten. Alle drei lachten Thea ein wenig an, vielleicht riefen sie ihr auch was zu, jedenfalls etwas Schmeichelhaftes. Aber sie vermochte zu sich selbst gleichsam keine Beziehung von außen mehr herzustellen. Die Leitung war durchschnitten. Sie bezog nichts mehr auf sich. Hinter der nächsten Ecke stand ein zweisitziges offenes sehr kleines Automobil. Es fuhr eben an. Thea erkannte den Oki Leucht, des Rittmeisters Freund. Neben ihm waren große Schachteln im Wagen, der jetzt schon um die Ecke bog, nach links, donauwärts. Thea eilte an der Ankunftsseite des Bahnhofes entlang; das Eilen hörte sich auf, als sie vor jenen gelangte und nun den Platz queren wollte. Dieses war nicht ohne weiteres möglich, bald kam's von rechts, bald kam's von links, auch blendete der Abendschein. Das Gesicht der Normal-Uhr am Türmchen schien ihr ungut und boshaft, die Zeiger zusammengezwickt, im spitzen Winkel. Es war zehn nach halb sechs. Sie neigte sich etwas vor und startete in den See von Verkehr hinein.

    Melzer lachte. Der Anblick des Doktor Negria, welcher da riesenhaft und hell gekleidet aus einem lächerlich kleinen Anhängewagen der Straßenbahn hervor bauschte oder bauchte – das Dach der Plattform schien knapp über Negrias Kopf zu sein, und obendrein waren seine Arme erhoben, da er sich mit beiden Händen in die Leder-Ringe zum Anhalten gehängt hatte, wodurch, bei weggespreizten Ellenbogen, sein Oberkörper noch massiger wirken mußte – dieser Anblick war unwiderstehlich: nicht zuletzt auch durch den Blick, den Adlerblick, welchen unser Kinderarzt und Aktivist aufwärts in's Leere bohrte. So zog das Phänomen vorüber, als der Major, nach dem Verlassen des Parks, die etwa einhundertsechzig Schritte bis zum Bahnhofsplatze fast hinter sich gebracht hatte und eben an der Ecke bei der Weinhalle einzulangen im Begriffe war. Im Begriffe auch, nun zu Editha Schlinger hinaufzugehen, und ihr den Zwischenfall und seine eigene, durch diesen verursachte Verspätung, auf der Stelle zu erklären. Die Vereinbarung mit Paula Pichler und Thea allerdings war nun längst und endgültig versäumt: der Schmerz, welcher Melzern deshalb anfiel, wuchs gerade jetzt heftig in ihm: der Schmerz über dieses eine und einzelne Versäumnis – aber nicht als über eines mit endgültigen, abschließenden Folgen. Dies war's nicht. Das wußte der Major, und außer Zweifel.
    Als er an der Ecke stehen blieb, sah er Mary. Sie hatte das Gesicht gegen die Alserbachstraße gewandt und hinter dem Straßenbahnzuge her, der eben da hinauf und davon fuhr. Sie stand. Jetzt begann sie wieder zu gehen, den Blick noch in der bisherigen Richtung. Die Straßenbahn zu Wien fuhr damals auf dem jeweils linken Gleis. Mary stand mitten auf jenem, welches Negrias Zug, dem sie nachblickte, eben an ihr und Melzer vorbei befahren hatte; es blieb ihr also das zweite noch zu überschreiten, wo in diesen Augenblicken, hinter dem davon gefahrenen Zuge für Melzer sichtbar werdend, ein in der Gegeririclitung aus der Alserbachstraße kommender eintraf, auf dessen Stirnwand Mary sich jetzt von seitwärts zubewegte. Sie rannte eigentlich in den Zug hinein. Noch bevor das schütternde äußerste Anziehen der Bremsen erfolgte und das Schreien von Passanten, welche den Vorgang erfaßten, warf sich Melzer halb links und gegen die Mitte des Platzes zu. Ganz und gar so, wie man sich in die Schlacht wirft beim Sturm-Angriffe: sich selbst wirft, als wär' der eigene Wille eine riesenhafte haarige Faust, der man mit seinem ganzen übrigen Leben in solchen Augenblicken klein und bedeutungslos insitzt.
    Schon bei ihr. Schon im Blute, dessen Rot ihm entgegenspringt, jetzt den Knieenden bespritzt. Jedoch, hier war ja ein Soldat von Beruf, ein Soldat vieler wechselnder Schlachten. Er riß den Riemen vom Leib, zerfetzten und blutigen Stoff empor und bei Seite. Er griff vor sich hin, erkannte klar und kalt in diesen Bruchteilen von Sekunden die fast völlige Abtrennung des Beins über dem Knie, auch, wo nun das totbleiche noch unverletzte Fleisch verläßlich begann: und schnürte ab. Er stieß

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