Die Strudlhofstiege
sich neuerlich gebildet. Die Bahre glitt in den Wagen. »Ihren schönen Stock«, sagte der Arzt, der während des Einladens drei Worte mit dem eben eingetroffenen Kollegen hier aus der Gegend wechselte (vielleicht kannten sie einander), »Ihren schönen Stock«, sagte er, sich zu Melzer wendend, »werden Sie im Unfallkrankenhaus abholen müssen, Lazarettgasse. Kennen Sie die Verunglückte?«
»Ja«, antwortete Melzer. »Ich bitte Sie mir zu sagen, Herr Doktor, ob Lebensgefahr besteht«, setzte er rasch und eindringlich hinzu. Seltsamerweise aber empfand er selbst diese Frage als eine Art bloßer Formalität. »Das kann ich jetzt nicht wissen«, sagte der Arzt, indem er einstieg, »dank Ihrer entschlossenen ersten Hilfe vielleicht nicht.« Der junge Polizist reichte dem Sanitätsgehilfen noch rasch Marys Tasche und Hütchen hinein. Der Wagen fuhr ab, die Doppelflöte ertönte.
So stand man denn, bei fortgefallenem und unsichtbar gewordenem äußeren Anlaß mit blutigen Kleidern auf der Straße. Denn eben verschwanden ansonst die letzten Spuren: ein anwesender älterer Polizei-Inspektor hatte sich alsbald an die Wagenwascher gewandt, welche bei den am Bahnhofe aufgestellten Autotaxis arbeiteten; sie schütteten nun ein paar hölzerne Butten Wasser über das Pflaster, wo dieses blutig gewesen. Das Rot verschwand. Ein Kehraus. In irgendeiner Weise ließ das an die Sperrstunde einer Wirtschaft denken. Aus dem Gespräch des Beamten mit den herbeigeholten Männern, das man im einzelnen nicht verstehen konnte, klang bereits ein eigentlich gemütlicher Ton.
Melzer, der sich mit Thea solchermaßen, gleichsam von allen Seiten mehr und mehr verlassen, dem eigenen äußeren und höchst auffallenden Zustande zunehmend überliefert sah, wandte sich mit der Bitte an den jungen Polizisten, welcher noch bei ihm stand, ein Autotaxi aufzuhalten oder herbeizurufen – »da wir uns ja in diesem Zustande nicht auf der Gasse bewegen können«, sagte er. »Jawohl, Herr Major«, erwiderte der junge Mann und nahm dabei für einen Augenblick Haltung an. Er schritt von der Insel auf den Platz hinaus und hob den Arm, da eben ein Gefährt anrollte. Der Wagenlenker begriff sogleich die Lage, als er Melzern und Thea ansah, obwohl das Haus, welches Melzer ihm nannte, ja kaum ein paar hundert Schritte von hier entfernt war. Der Chauffeur warf seinen leinenen Arbeitskittel als Schutz gegen Blutflecke über die Polsterung. Nun saßen sie im Wagen. Der Beamte salutierte. Während dieser kurzen Fahrt war schlichthin alles – Thea, nichts anderes mehr für Melzer vorhanden. Sie geschah unaufhörlich neben ihm, als ein Ausbruch, als ein Krater, als eine Stelle im Leben, wo dieses sein Innerstes hervorwarf, sein Äußerstes erreichte. Er hörte ihre Frage, die sie noch im Wagen tat – »Herr Major, Sie kennen die Dame, welche verunglückt ist?« – nur wie von Ferne und undeutlich, gleichsam gedämpft und überdeckt vom Getöse, dessen Ursache Thea war. »Ja«, sagte er, wie schlaftrunken redend, »ich hab' sie vor fünfzehn Jahren zum letzten Mal gesehen.« Man langte vor dem Haustor an. »Sie kommen zu mir, zu meiner Hausfrau, Fräulein Thea; so dürfen Sie nicht zu Ihren Eltern, die würden furchtbar erschrecken.« Die Rokitzer betrat den Flur, während Melzer das Tor offen hielt. »Dank' schön, gnä' Herr!« rief der Chauffeur über den Gehsteig. Melzer hatte ihm einen Geldschein gereicht, aber dann abgewunken, als jener die Scheidemünze hervorsuchte.
Es galt, die Rak nicht zu erschrecken (hoffentlich war sie daheim?!). Der Pierrot gehörte nicht zu den Resoluten. Wohl aber die Hausmeisterin, Frau Gruber. Melzer klingelte bei ihr. In diesem Augenblick wurde ihm bewußt, daß im Stiegenhause wieder der normale, kalkig saubere Geruch herrschte, nicht jener dumpfe von Gummi. Die Tür zu der kleinen Werkstatt oder Rumpelkammer war geschlossen. Die Gruber, eine junge, dralle Person, die mit nackten Beinen und in Pantoffeln heraustrat, begriff rasch, was Melzer ihr sagte (sie konnte dabei ja auch Thea betrachten). Zudem hatte sie von dem Unfall am Althanplatze bereits gehört (so schnell geht so etwas durch die benachbarten Gassen). Nun lief sie die Treppen hinauf, um die Rechnungsrätin vorzubereiten, und Melzer folgte langsam mit Thea Rokitzer nach.
Diese wurde oben alsbald dem Pierrot übergeben (dessen schwarze Augen wie Jettknöpfe leuchteten angesichts solcher Sensation). Melzer erbat nur, daß man bei ihm klopfe, wenn das Badezimmer wieder
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