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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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seinen Spazierstock (samt dem goldenen Knauf) geschickt durch den Riemen, fast gleichzeitig mit dem harten Anziehen von diesem: und nun drehte er. Die stoßweise, taktweise Blutwelle versiegte, nicht mehr wuchs die Lache um seine Knie. Jemand half die ganze Zeit, raffte Störendes beiseite, beförderte das Durchgleiten des Stockes, hielt diesen jetzt fest in seiner Lage, so daß Melzer ihn loslassen und sich aufrichten konnte, um Atem zu schöpfen. Er wandte sich dem Helfer zu: und sah neben sich in der roten Lache die Thea Rokitzer knien, vollständig bespritzt und besudelt von Marys Blut wie er selbst.

    Damit aber, daß sie nun nebeneinander im Blute knieten, war, nach dem Stoß der Katastrophe, schon eine verhältnismäßig stabile Lage eingetreten (und in mancher Hinsicht). Der Treffer saß. Lag still. Das Ereignis wurde zu einer Art von Einrichtung, mit der man sich einrichten mußte. Es waren jene Sekunden, in welchen eine Tatsache es vor unseren Augen erst eigentlich wird, nachdem sie bereits vollzogen: jedoch ihr meteorartiger Einschuß allein aus einem gleichsam außerweltlichen Raum (woher sie alle kommen und wo sie im Vorrat gelegen zu haben scheinen) läßt sie noch durchaus von uns getrennt. Vor allem muß eines hinzukommen, damit etwas über haupt Tatsache sei: Dauer, mindestens eine gewisse Dauer. Unter Umständen wirken schon halbe und ganze Minuten Wunderwerke der Verwirklichung. So auch hier. Die zahllosen Tentakel des Lebens, alsbald ihre Arbeit aufnehmend, beweglich flimmernd, beginnen die neue Nahrung zu assimilieren, die jener unersättliche Schlund wieder einmal bekommen hat, ebnen bereits den durch Augenblicke in seiner Urform starrenden Wulst des Ereignisses ein.
    Dieser ringförmige Wulst, beim Einschlag einer Granate etwa oder Fliegerbombe meist aus Erde, bestand hier aus Menschen.
    Naturgemäß schlagartig entstanden, veränderte er schon seine Gestalt, ja, er bröckelte da und dort bereits ab. Während jener Augenblicke, da Melzer sich in sein Hauptgefecht geworfen hatte, von der Ecke bei der Weinhalle mit einem wahren Tigersatze startend, war nur dieses geschehen, daß man die bewußtlose Mary unter dem Waggon und seiner Schutzvorrichtung hervor und beiseite gezerrt hatte: und schon traf der Major bei ihr ein. Mary hatte man ohne Schwierigkeit aus geringer Verklemmung befreien können; die Schutzvorrichtung war etwas gehoben gewesen: sei's durch die übermäßige Erschütterung beim Bremsen des Wagens, sei's durch Marys Körper selbst, oder durch beides zusammen. Aber damit eben war das linke Vorder-Rad zum Schneiden gelangt. Jetzt schufen mehrere Polizeibeamte Raum und Ruhe, befreiten die Geleise der Tramway von den Menschen, die sich da herzudrängten, und nachdem man Zeugen des Geschehnisses aufgenommen und insbesondere von dem Fahrer des Unglückszuges die nötigen Notizen erhalten hatte, begann eine erheblich lange Kette inzwischen rückwärts eingetroffe ner und aufgehaltener Straßenbahnzüge sich über den Althanplatz gegen die Donau wieder in Bewegung zu setzen. Aus den Waggons sahen die Fahrgäste, bereits wirkliche und ledigliche Passanten in des Wortes eigentlichster Bedeutung (denen ja auch nichts passiert war), auf den schwindenden Ringwulst.
    In dessen Zentrum schritt inzwischen der Aufsaugungsprozeß des Ereignisses vor, die Einebnung, Abflachung und Angleichung an die Ebene der gegebenen Tatsachen, auf welcher man ja nun wirklich angelangt war. Verbandzeug wurde vom Bahnhofe gebracht. Melzer selbst legte Mary den ersten Notverband an, beließ aber klugerweise Riemen und Stock; letzterer war jetzt fixiert, und Thea konnte ihn endlich loslassen. Sie half Melzern beim Verbinden, ebenso ein junger gradgewachsener und hübscher Polizist, der dann in einer seltsam suggestiven Form an die noch immer gedrängten Zuschauer eine Aufforderung richtete, mehr Raum zu geben und ihres Weges zu gehen: »Meine Herrschaften, bei der armen Frau gibt's nichts mehr zu sehen«, sagte er; und dieser sozusagen versteckte Appell an die Humanität – während er die Schaugier fast beim Namen nannte – tat einige Wirkung. Der eigentliche Punkt des Überganges aber von der Katastrophe zu einer Welt neugeschaffener Tatsachen – zumindest für Melzer und Thea war's bald eine solche, denn Mary lag ja noch in tiefer Bewußtlosigkeit – wurde markiert, als jene beiden sich aus ihrer knieenden Stellung und aus der Blutlache erhoben, welche schon nach verschiedenen Seiten Gerinnsel entsandte, die da

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