Die Strudlhofstiege
und dort weitergesickert waren, bis vor die Füße der Zuschauer, an anderen Stellen aber untereinander sich bereits wieder verbanden und zusammenflossen. Man hob jetzt Mary auf, ein klein wenig nur und mit größter Vorsicht, und brachte sie ganz aus der Fahrbahn und an den Rand einer jener ›Rettungs-Inseln‹, deren vergleichsweiser Name in diesem Falle also von der blutigen Wirklichkeit eingeholt und sozusagen dicht und prall ausgefüllt wurde. Melzer, der seine Kleidung zu schonen wahrlich keinen Anlaß mehr hatte, saß auf dem Prellstein nieder und ließ durch Thea und den jungen Polizisten Mary so betten, daß ihr Haupt auf seinen Oberschenkeln lag; dabei hielt er sich etwas nach links gewandt und mit der Linken auf den Boden gestützt. Thea, die – jetzt erst – Tränen in den Augen hatte, legte Marys Arme zurecht. Das noch anhangende abgetrennte Glied hatte Melzer mit Hilfe des Verbandstoffes gleichfalls festgemacht, so gut es gehen mochte; er und Thea waren bis weit über die Ellenbogen voll Blut. Der Polizeibeamte erbat von Melzer und Thea Namen und Adresse. Ob Melzer Arzt sei? Nein, Major, sagte dieser, immer Mary betrachtend; er hatte das halb weggerissene Hütchen sachte von ihrem Kopf gelöst, glättete das Haar und setzte die kleine Toque auf Marys Handtasche, die der Beamte im ersten Gedränge gesichert und jetzt auf den Randstein gelegt hatte. Ob Melzer Zeuge des Unfalles selbst gewesen sei? Ja, sagte der Major, und daß die Verunglückte geradezu in den Straßenbahnzug hineingerannt sei, dessen Motorführer ein Verschulden in gar keiner Weise treffen könne, dies sei außer Frage, und so werde er, Melzer, als Zeuge auch aussagen. Thea saß rechts von ihm gleichfalls am Randsteine, wie er selbst. Die Zuschauer verliefen sich fast alle. Marys Identität übrigens war von der Polizei schon festgestellt worden, ihr Täschchen hatte unter anderem eine Mitgliedskarte des Tennisclubs im Augarten enthalten. Eben als einer der Beamten sich entfernte, um ihre Angehörigen sogleich zu verständigen, da die Wohnung ja in nächster Nähe lag, traf aber auch schon der Ambulanzwagen ein, fast gleichzeitig mit ihm ein Arzt aus der nächsten Umgebung, den irgendwer herbeigerufen hatte.
Aber während dieser ganzen Detaillierung der Dinge, die ja immerhin durch eine Anzahl von Minuten sich zog, hatte Melzer wesentlich nichts anderes im Auge, nahm er durch dieses nichts anderes in sich auf, als das Köpfchen Marys, das, nach rechts gesunken, im auseinander gelockerten Haar sein bleiches Profil bot: es war von furchtbarer Blässe, aber nicht von tödlicher; nicht von jener, in die das Antlitz seines sterbenden Obersten plötzlich gefallen war, während dieser zu ihm noch gesprochen hatte. Auch atmete Mary verhältnismäßig kräftig; noch blühte ihr Antlitz, süß und edel und für Melzern ehrwürdig, und es geschah nicht jener unheimliche Fortfall des Fleisches zwischen Backenknochen und Haut, als versänke jenes nach innen und ließe das Kopfskelett hervortreten, wie man's manchmal bei eben Verstorbenen sehen kann und keineswegs nur bei solchen mit hagerem Antlitz. Dies hier war nicht der Tod: Melzer kannte ihn. Was um dieses zarte Haupt stand war vielmehr eines kommenden Lebens ganze Schwere. Und während er sie betrachtete, wußte er doch mit einer Sicherheit ohne jeden Zweifel, daß sie darüber würde siegen. Es war nicht irgendeine. Es war Mary.
Unaufhörlich läuteten die Kirchenglocken, dies war das Zweite, was er die ganze Zeit hindurch in sich aufnahm, wie all' jenes durch das Aug' so dieses durch das Ohr. Es mochte von Liechtenthal her sein, von der Kirche zu den Vierzehn Nothelfern.
Als Drittes aber und nicht durch ein einzelnes Sinnesorgan, sondern durch alle zugleich, innere und äußere, sicht bare und unsichtbare, alarmierte Zellen, offene Pforten Leibes und der Seele – denn welche knackenden Riegel waren da nicht gesprungen unter solchem Stoß und welche Wände konnten jetzt noch ganz bleiben: Thea saß hier neben ihm, zu dieser Stunde, jetzt und heute.
Die Ambulanz kam. Der Ton ihrer Doppelflöte hielt Fahrzeuge an, drehte die Köpfe auch jener auf der Straße, welche von dem Unfalle nichts bemerkt hatten. Der Arzt, nachdem er aus dem Wagen gesprungen war und den Sachverhalt rasch überprüft hatte, fragte Melzern, mit einem Blick auf dessen blutige Kleider, ob er es sei, der die erste Hilfe geleistet habe? »Es ist gut«, sagte er, da Melzer nickte. Eine kleine Menschenansammlung hatte
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