Die Strudlhofstiege
Thea jene Papiere genommen hatte, die er jetzt bei sich trug – es wurde Melzern also vollends eindringlich und ganz evident, was er ja seit Theas Erzählung schon erkannt hatte, nämlich, daß dies hier der wirklichen Editha Schlinger Zimmer war, welche bei ihm die Papiere im Vorratsraume der Registratur entwendet hatte: und nicht das Zimmer der anderen, des Scheins und Regenbogenstreifs von diesem Sommer. Ohne jede weitere Folgerung im einzelnen schien ihm der Raum das unmittelbar auszusprechen: dieser wurde nicht bewohnt von der seltsamen Gefährtin in den Donau-Auen, die wie ein bunter Vorhang im Winde vor dem Vergangenen geflattert hatte, davon sie wie losgerissen war. Hier saß überall ein Undurchsichtigeres, ein Festeres. Schon rief der Rittmeister. Und er klatschte, als Melzer hervorkam, laut in die Hände.
Sogleich erschienen die Zwillinge, links und rechts aus den Flügeltüren tretend und blieben vor denselben stehen; weiß vor den weißen Türen in dem hellen Raume, dessen breites Fenster den Berg faßte und die ferne Burg. Editha hatte sich diesmal auf kein gegoldetes Beige, sondern auf Weiß kapriziert, noch dazu auf einen Stoff, der nicht gerade zu den Kleidsamsten gehört und obendrein damals ganz und gar aus der Mode gekommen war: sie trugen Piqué-Kleider. Vielleicht eine Erinnerung an noch gemeinsame Jahre der Jugend. Es blieb zunächst vollkommen stille. Melzer, an Ort und Stelle verharrend, dicht vor der Tapetentür, verbeugte sich leicht nach links und nach rechts. Er empfand in diesen Augenblicken sehr lebhaft die Anwesenheit des weiß gesträhnten Himmels, der da hereinfiel, und der Sonne, welche draußen über näheren Häusern, einem Stückchen des Flusses, das man sehen konnte, und auf den fernen Bergen lag. Der Rittmeister war beiseite getreten.
»Gnädige Frau«, sagte Melzer nach links, zu Editha, »ich bin reichlich spät gekommen, um mich für mein Ausbleiben am Montag, dem 21. September, bei Ihnen zu entschuldigen, an welchem Tage Sie mich zum Tee erwartet haben. Jedoch wurde ich am Erscheinen durch zwei eingetretene Katastrophen verhindert: durch den Tod von René Stangelers Schwester, der Konsulin Grauermann, die ihrem Leben selbst ein Ende gemacht hat; und durch den schweren Unfall einer mir bekannten Dame hier auf dem Althan-Platz, der zur kritischen Zeit erfolgte, wovon Sie vielleicht sogar vernommen haben.«
Seiner gesetzten Rede erwiderte zunächst niemand. Es war durchaus so, als zwinge Melzer die von den anderen arrangierte Situation in eine von ihm jetzt beliebte Form, oder das gestellte Bild in den von ihm verliehenen Rahmen, welcher es erst zurecht schob. Editha hatte einen Schritt von der Flügeltüre weg und auf Melzer zu getan. Dieser aber wandte sich jetzt nach rechts.
»Sie haben mir Ihre Füllfeder anvertraut, verehrte Gnädige«, sagte der Major und zog ein ziegelrotes längliches Etui von Leder aus der Rocktasche, »schon am 28. August, mit dem Auftrage, die Feder reparieren zu lassen. Hier ist sie, und in Ordnung. Ich habe sie ausprobiert.« Damit hielt er ihr das Etui entgegen.
Sie nahm es nicht, wenngleich sie zwei kleine Schritte auf ihn zu tat. »Da kenn' ich ihn wieder, meinen – Melzerich, meinen ordentlichen Soldaten«, sagte sie, mit grad herabhängenden Armen vor ihm stehend. Wie ein riesiges Fahnentuch hinter ihrem rätselhaften Kopf wehte der von hochaufgesträhnten weißen Wolkenstreifen unruhige Himmel, der ferne Berg mit seiner Burg, die hinaus in den ebenen Osten schaut, sommerein und sommeraus, und in die abgrundtiefe Wehmut, die uns jeden Augenblick verschlingen würde, wehrten wir ihr nicht. »Wissen Sie eigentlich, Melzer«, setzte sie nach einem winzigen Zögern mit einer Freiheit hinzu, die fremd und vollkommen war, »daß ich Sie sehr geliebt habe?« Der Major, nunmehr im Besitze eines rasch gereiften Verstands und Verstehens befindlich, stand seinen Zivilisten auf den Beinen eines Infanteristen ohne Tadel. Und, zum Reden wahrlich nicht erzogen, ließ er doch die Lage keineswegs hinter sich ohne das treffende, eines bescheidentlichen Herrn und Edelmanns würdige Wort. »Wenn es so gewesen ist«, sagte er, indem er ihre Hand nahm und diese mit einer Verbeugung küßte, welcher in aller Unbefangenheit der Atomkern einer Haupt- und Staatsaktion impliziert war, »wenn es so gewesen ist«, sagte er, »dann verzeihen Sie mir. Ich habe Ihnen einmal Unrecht getan. Indem ich vermeinte, Sie hätten ganz ohneweiteres Dinge vergessen, die man
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