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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Wohnungstüre und Melzer ging die leeren Treppen hinab.

    Noch nicht bis zur Mitte hinuntergelangt, schien ihm das helle saubere Stiegenhaus durch einen Augenblick grau zu werden, und in ihm selbst da drinnen ward alles überschwemmt wie von schwarzer verschütteter Tinte. Eine unter der Bewegung der ganzen letzten Vorgänge entfernt und nur punkthaft wie ein Stecknadelkopf anwesende Einzelheit vergrößerte sich jetzt, platzte, und kam damit unversehens zu ihrem Namen: unter Mimis von der Polizei beschlagnahmten Briefen mußte oder konnte sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch jener befinden, den er Thea am 10. Juli auf der Straße übergeben hatte und worin der damals für Editha Schlinger gehaltenen Frau Scarlez mündliche Auskünfte versprochen worden waren ›die Beschaffung größerer Posten von Rauchsorten betreffend‹. Mit einem Blitz über bald drei Monate hinweg sprang sein eigener Text vor ihn hin. Er wollte und wollte anhalten, zurückkehren, geradezu fragen. Er ging und ging die Treppen hinab, und war schon auf der Straße. Der sich neigende Tag fiel jetzt auf ihn wie eine schwere Last: er fiel, er lag still, er drückte nach.
    Jedoch, schon murmelten am Rand und Außenring des Treffers die unterwaschenden, erodierenden, sich neuerlich ihren Weg grabenden Quellen, deren Wasser nur für Augenblicke ausgeblieben waren, wie der plätschernde Strahl des Brunnens für Sekunden vom Troge weicht, wenn es ein Erdbeben gibt.
    Sie umspülten dieses durch plötzlichen Ein-Fall nun wirklich gewordene Objekt, versuchten es zu detaillieren, zu modellieren, in seine zunächst abweisend glatte Struktur Gerinnsel hineinzubringen; dies gelang rasch und rascher. Aber die Summe des nun geteilten Gewichts blieb die gleiche; eben das mußte Melzer erkennen, als er jetzt, immer weitergehend, an den Bahnhofsplatz gekommen war und innerlich, mit seinen die Einschlag-Stelle betastenden Vorstellungen so weit, daß ihm durch den Kopf ging: er könnte sich ja in dieser ganzen Angelegenheit seinem Hofrate eröffnen (aber – wie weit?!) und endlich: daß ihm ja Ernstliches dabei unmöglich widerfahren könne. Jedoch, nur durch einen halben Atemzug wirkte dies letzte erleichternd. Ein tieferes Mißtrauen beschlich unseren Major, wie den Schwimmer eine kältere Unterströmung des Wassers: war all die Rettung, Bewahrung, die da von so verschiedenen Seiten her wie aus überraschend geöffneten Türen, aus neuen Türen in bisher fugenloser Wand, sich auf ihn zu in Bewegung gesetzt hatte – war all dieses nur ein Hebelwerk gewesen (er dachte sogar jetzt des ansonst ganz vergessenen Stangeler, welcher, selbst zögernd, ihn im Parke hatte zögern machen!), ein Hebelwerk, um ihn, Melzer, an diesen Punkt hier zu führen, wo erst das eigentliche Gebiß der Entscheidung bleckte? Aber zugleich fühlt' er, daß, was jetzt in ihm steckte, wie ein Geschoß, wie ein Pfeilschaft aus ihm herausragend, die Bewegung behindernd: daß es doch wieder nichts aufhob von dem, was geschehen oder eigentlich – nicht geschehen, verhütet worden war durch den Schutz von im einzelnen erklärlichen Umständen, deren Eintreten im ganzen unbegreiflich blieb. Überraschend befiel ihn Ekel vor sich selbst, vor der eigenen Besorgtheit, fast Panik; dieser Ekel schüttelte seine Haltung , zurecht und zerriß die Gespinste des Kleinmuts wegen irgendwelcher sieben Sachen.
    Er hätte nun Thea, um mit ihr noch ein wenig im Parke zu sitzen, aus der elterlichen Wohnung holen sollen: indessen das gleichsam aus ihm noch hervorstehende Geschoß hielt ihn doch davon ab, dorthin jetzt zu gehen. Er fand sich, nach dem Überschreiten des Platzes, neben einer öffentlichen Telephonzelle stehen: die er nun unverzüglich betrat, um Thea zu bitten, sie möge gleich jetzt in den Liechtenstein'schen Garten kommen.
    Noch bevor ihre gute Stimme in der Muschel laut ward, wußte Melzer, daß er ihr, auf der Bank im Parke, alles erzählen würde: nicht nur, was sich bei Frau Schlinger begeben – davon erwartete sie ja seinen Bericht schon mit Neugierde, mit der eigenen sowohl wie mit jener der Paula Pichler – sondern auch dies letzte: auch von diesem letzten kleinen und doch qualvollen Haken, an dem er nun hing, sollte sie wissen – da sie denn bestimmt war, mit ihm zu leben (dieses dachte er nicht ohne eine klare Härte). Unmittelbar bevor Thea mit schon ganz vertrautem Klang sein Ohr erfüllte, traten jedoch in Melzer zwei Empfindungen auf, wie gekreuzte Lichtbänder: zum ersten Mal

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