Die Strudlhofstiege
Gelegenheit ersichtlich, daß auf den heutigen 2. Oktober das Schutzengel-Fest fiel: Melzern wird man's kaum verübeln, wenn er den seinen gefunden zu haben glaubte. Er sagte ihr das auch. Unter solchen anmutigen, wenn auch nicht gerade scharfsinnigen Gesprächen verließen sie den Park, als der Abend zwischen den Büschen erlosch, das Grau hervorschwamm, die Straßen in Dämmerung und ersten Lichtern lauter zu lärmen schienen. Melzer brachte Thea an ihr Haustor.
Er ging in sein ›Beisl‹ essen, blieb dort lange sitzen und trank etwas Wein. Er dachte nichts. Er brachte es fertig, nichts von dem zu denken, was man sich so im allgemeinen denkt; und damit setzte Melzer, freilich ohne es zu ahnen, die zweite erhebliche geistige Leistung seines Lebens, nach der ersten im Liechtensteinpark, als er das feile, und im tiefsten Grunde schon verbrecherische Wesen jener Sprache erkannt hatte, die ihm mit zwei Frauen gemeinsam gewesen war, einer Toten und einer Lebenden. Hier aber, nachdem das Gezappel aller Apparatur aufgehört hatte und sämtliche Schießbudenfiguren stille hielten, stand sein bisheriges Leben wie ein abgerundeter Körper, eirund und geschlossen, in die Leere, die kein Rot mehr erfüllte, sondern eher das Blauviolett der stillsten Frühe und der Morgenschatten; auf solchem Kissen ruhte, was von der Treskavica war bis in die Porzellangasse.
Gegen halb neun ging er. Zu den Stiegen freilich, als zum Nabel einer Welt, von welcher er nun zu scheiden im Begriffe stand: denn auch das wußte Melzer (zudem sollte die Wohnung des Ehepaares draußen in Döbling sein). Etwas zögernd, mit verhaltenem Schritte, ja wie in Ehrfurcht kreuzte er die Liechtensteinstraße.
Das Werk lag fast verlassen. Noch war der Mond, der an diesem Tage wieder voll geworden, nicht ganz herauf und hervor hinter den hohen Häusern der Pasteurgasse, wo der Himmel schon milchig sich erhellte. Jedoch oben und rückwärts, als Melzer nun langsam herantrat an die pirouettierenden Treppen und stieg und über sich schaute, blieben noch einzelne Sterne schwach schimmernd sichtbar. Diese Nacht war nicht kühl, ja, unter den Büschen schien die Wärme des Tages gesammelt zu liegen und hauchte hervor an den Kehren der Treppe, wo diese ausholte in den baumreichen Hang. Bald hielt Melzer auf der zweiten Rampe. Er blickte aufwärts, erst zu dem kleinen Palais rechter Hand, das nun freilich nicht ockergelb war, sondern als dunkler Kubus in die Nacht schnitt, von den Baumwipfeln überstiegen; jetzt in den Himmel: und zugleich wie in sich selbst hinein, aber nicht wie in die eigene hohle Hand, sondern in eine größere Höhlung, einen geweiteteren Raum. Die wenigen darin flimmernden Punkte seiner wesentlichen Lebensgeschichte waren doch in ihm, so erkannt' er endlich, stets in irgendeiner Weise auf einander bezogen gewesen. Jetzt aber standen sie über seinem inneren wie äußeren Horizonte sanft leuchtend aufgegangen, ein deutbares Sternbild, das Figur annahm, von Stern zu Stern durch feine silberne Spinnenfäden verbunden.
Der letzte Auftritt mit Melzer und den Zwillingen hatte dem Rittmeister ein entscheidendes Übergewicht verschafft; sonderlich in bezug auf Editha, gegen welche er zuletzt mit Mimi schon beinahe verbündet gewesen; die entsetzliche Blamage der Schlinger aber brachte nun alles auf den letzten Rutsch und in seine natürliche Fallrichtung. Zudem hatte Wedderkopp mit neuer Dringlichkeit sich gemeldet. Sein Durchbruch stand be vor (ein Negrianer war er ja ganz zweifellos), und nun wollte er also in wenigen Tagen hier in Wien einlangen.
Aber die beste Karte, den eigentlichen Trumpf, spielte Eulenfeld erst am Freitag aus – er hatte sie noch im Busen bewahrt – wenige Minuten nach Melzers letztem Abgange: ein Kabel des Enrique Scarlez, das bei ihm eingetroffen war (denn Eulenfeld hatte die Nachricht ausdrücklich an seine eigene Adresse erbeten). Sei es, daß dem Zigarren-Grossisten dort drüben die Reise gerade in seine geschäftlichen Dispositionen paßte oder daß er eben Ruhe und freie Hand hatte: auch dieser kündigte sein Erscheinen für bald an, ja mit fixiertem Tag der Abreise, welcher ersehen ließ, daß man Scarlez noch vor der Mitte des November würde hier in Wien haben. Die kalte Jahreszeit schien er nicht zu fürchten; oder mehr als diese noch die Gefährdung von Mimis Erbschaft. Des Rittmeisters Telegramm (er hatte sich's eine Stange Geld kosten lassen!) war freilich so ausführlich wie eindeutig gewesen.
So ließ denn der
Weitere Kostenlose Bücher