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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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bei gewissen Arten von Glas sehen kann, die mitunter für kleinere Gegenstände, etwa für Salzfäßlein und dergleichen, verwendet werden: von zahllosen Sprüngen durchzogen: das Widersätzliche ihrer Lage, die plötzliche erlösende Erleichterung, welche sie empfand, zugleich aber auch, damit gekreuzt, die Pein angesichts dieser Aufdeckung einer ebenso schmählichen wie läppischen Handlungsweise, dies ließ ihr jetzt keinen anderen Ausweg als den der sofortigen Kapitulation; auch ihre angeborene und prompte Frechheit vermochte ihr keinen anderen mehr zu zeigen und zu eröffnen. Sie richtete sich auf, sah vor sich hin und weinte. Dabei legte sie Melzern die Hand auf 's Knie und sagte nur: »Melzer, Melzer.« Ein grauer Knäul von Sorge verschwand aus ihrem Innern. Aber durch alle Kammern pfiff jetzt der Zugwind einer letzten Blamage, daß die Türen klappten und knallten. In diesem ventilierten Zustande bestanden für Editha zweifellos bedeutende Chancen einer Entwicklung und Erneuerung, deren Wahrnehmung unsere Sache hier nicht sein kann; vielmehr halten wir das für eine den Herrn Wedderkopp berührende Angelegenheit, welchem der Editha gegenüber zweifellos die Gabe eignete, dieses Wesen gewissermaßen auszuschalten und an die Wand zu drücken, noch dazu auf eine der Partnerin sehr angenehme, ja innigst erwünschte Art. Rin' in die Chose! Machen wir! Det Ding woll'n wir mal schaukeln. Wedderkopp ante portas. Jedoch war es für ihn sicher von Vorteil, daß er bei Einstieg und Auftakt die Editha SchlingerPastré übernahm, als sie zweifellos in einer reduzierten oder mindestens moderierten Personsverfassung sich befand. Und Gustav sollte ja bald hier in Wien zum Durchbruche gelangen. Der erste Anhieb ist immer wichtig. Hätte doch Gustav unsere Editha schon 1911 über den Haufen gerannt! Freilich, beim Felsklettern ihr so nachdrücklich zu helfen wie René, der traurige Filou, das hätte Wedderkopp vielleicht gar nicht ver mocht, denn er stammte aus keiner alpinen Gegend (alles in allem: seine Ehe mit Editha ist eine vortreffliche, glückliche und kinderreiche geworden).
    Jetzt indessen weinte sie. Melzer, der einen Blick auf Mimi hinüberwarf, erkannte, daß diese sich weit und sozusagen endgültig zurückgezogen hatte aus der ganzen Lage, welche für sie mit ihren letzten, vollkommen freien Worten an Melzer allerdings ohne Rest liquidiert war. Sie saß bequem in ihrem Sessel, den sie vom Teetische weit abgerückt hatte, und so, daß hinter ihrem Haupte das breite Fenster mit der Ferne stand. In diesen Augenblicken nahm Melzer eigentlich schwer Abschied von ihr (Oh ténébreux et troubles, nos cœurs humains, même les plus sincères!). Es war, als fliehe dieses Antlitz in den Hintergrund hinein, als löse es sich darin auf, als ginge es dahin heim, woher es gekommen: und gewiß war, daß es niemals mehr würde erscheinen. Bin ich diesem, das doch einzigartig war, denn nur irgendwie gerecht geworden? dachte er (wenn auch verwischt). Und einen Atemzug lang wehte ihn dieselbe Empfindung an wie vor fünfzehn Jahren nach dem Abschiede von Mary, als er mit dem Major Laska im Zuge gesessen war: die Empfindung eines unersetzlichen Verlustes.
    Jedoch, schon erstarb diese Stimme. Was ihn jetzt erstaunen machte, war ein sicheres Wissen davon, daß Mimi – welche er doch nie weinen gesehen – dies auf eine gänzlich andere Art getan haben würde: wie ein an lauen Frühlingstagen fließender Regen wahrscheinlich, offenen Auges, sanften Erflusses, ohne Gicksen und Glucksen und babyhafter Verfältelung des Gesichtes. Gewißlich, so hätte sie geweint. Aber nicht wie Editha, die stückchenweise weinte, so wie ein Huhn schlückchenweise trinkt. Ihr Weinen machte die gänzliche Leere und Bedeutungslosigkeit ihrer Person sozusagen fast zur offenen Schande. Nie könnte die profunde Verschiedenheit der beiden Schwestern zu einer handhafteren Evidenz gelangen als jetzt, in diesen endhaften Minuten, so fühlte Melzer: und darum eben war's zu Ende. Plötzlich hatte der Rittmeister die vor der Schlinger liegenden Papiere an sich genommen; es war ihr nicht mehr gelungen, danach zu greifen und sie festzuhalten. Editha ließ sich in ihren Sessel zurückfallen. Bei Eulenfeld stieg das Monokel. Großes Grunz-Zeichen. Melzer beobachtete ihn genau. Was der Major so und nicht anders vorausgesetzt hatte, wurde ihm sogleich evident und anschaulich: daß nämlich Eulenfeld etwas für ihn gänzlich Neues zum ersten Male sah (und dabei hatte sie

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