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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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sozusagen schon kühl-ernsten Ahnung überschattet wurde, »daß hier noch mancherlei harte Abstiege würden kommen«; und mit dieser etwas seltsamen Ausdrucksweise hat er später in manchen Gesprächen den gedachten Punkt bezeichnet. Von alledem blieb man im März 1915 zu Konstantinopel weit entfernt. Es war eine Zeit des tiefsten Erstaunens für Etelka und damit ist schon gesagt: eine Zeit zarten Beginns, eine frühe Zeit mit steigender Tendenz in allen feinen Äderchen des Lebens, ein Vor-Frühling mit all seinen Benommenheiten, mit seiner tiefen Befangenheit, die den Menschen umzirkt, als sei er von einem hohlspiegelnden Rund umgeben, aus dessen zerfließenden Bildern zuletzt doch immer wieder nichts anderes hervortritt als das Bild des eigenen Ich, welches dabei am allermeisten bestaunt wird und als erblicke man es zum ersten Male.
Sie sah weit bewußter und geschlossener aus als sie wirklich war, wenn sie mit ihren beiden Windhunden auf der Peraer Seite des Boulevard Kassim Pascha dahinging, mitsamt ihrem immer etwas breit wirkenden Gesicht (dessen großer Augenabstand für Begabtheit sprach) und ihrem sicheren und schicken Auftreten. Übrigens stand ihr Weiß ganz ausgezeichnet. Und das kam hier bald an die Reihe: auch mit schönen Flauschjacken, wie wir eine solche einmal an Frau Mary K. bemerkt haben. Etelka liebte dazu sehr große Knöpfe. Manchmal vermochte sie es, auf dem genannten Boulevard oder in der Rue de Pera auch recht arrogant auszusehen. Aber das waren Kindereien.
Und die Kindereien wurden zudem seltener. Diese Stadt hatte merkwürdige stille Inseln, wie keine zweite, ausgestorbene und erstorbene Flecke, über welchen das Gras eines anderen Zeitalters wuchs. Nicht nur die Parks waren zum Teile still, in der Gegend etwa der englischen Botschaft oder des Theaters, und dort gab es ja auch wirklich einen Friedhof. Nein, diese Stadt hatte völlig vereinsamte Stellen, einsam wie jene ›Meeraugen‹ genannten winzigen Teiche in Dalmatien, darin sich bei baumlosem Karst nur das leere Blau des Himmels fangen kann. Es gab hier Plätzchen, halb verfallene fensterlose Mauern, Brunnen, Durchgänge, die mit ihrem eigenen Zerfall zu gleich weit aus dem Flusse der vergehenden Zeit hinausgeraten waren.
An solchen Plätzen erreichte Etelkas erstaunter Zustand seine Höhepunkte und sie, vor noch so kurzer Zeit Mittelpunkt eines Quirls von Familienleben, wie eben jede, die sich zu verheiraten im Begriffe ist, sie stand plötzlich in einer wie eigens als Folie für ihren neuen Zustand geschaffenen Umgebung, von ihr umschlossen, das immer lauter werdende Gefühl in der Brust, von dem sie jetzt wußte, daß es die Liebe war und nichts darüber und nichts darunter, und daß es dem Leben hier nichts abzuhandeln gab.
So der Wirklichkeit unvermutet und erstmalig gegenübergestellt, breitete sich eine raschere Reife in ihr aus, übermächtiger Oktobersonne vergleichbar, die gelagerten Nebel mit Leichtigkeit vertreibt. Bei so hervortretend geklärten Konturen rebellierte Etelka nicht allsogleich gegen die Umstände, welche nun ihr Dasein umzirkten und bedingten, weil ein tieferer Instinkt ihrer geistigen Rasse ihr zu sagen vermochte, daß auch einer ganz verkehrt gewählten Richtung – und als das mußte sie ihre Ehe wohl jetzt erkennen! – eines zukommen müsse, damit es überhaupt eine Richtung sei: Dauer, mindestens eine gewisse Dauer. Und da alles so gänzlich über ihrem Haupte zustande gekommen war und das Schicksal gleichsam über ihren Kopf hinweg verfügt hatte – unangesehen ob dieser jetzt gerade Wahres oder Falsches enthalten mochte – so erschienen Etelka die verschiedenen Bedingnisse und BestimmungsStücke ihrer Lage als durchaus nicht ihr eigenes Werk (woran solche Menschen mit dämonisch heftigem Willen sonst gerne glauben!), sondern gewissermaßen autoritativ und demnach ohne Kritik hinzunehmen, zu leben und zu praktizieren. Auf diese Weise kam sie, ohne den Weg irgend über's Moralische, sei's in konventioneller oder religiöser Form zu nehmen, dahin, daß ihre Ehe von ihr aus intakt blieb, einfach weil sie dieser nun einmal eingegangenen Verbindung (mochte jetzt was immer davon zu denken sein) eine gewisse Dauer als selbstverständliche und notwendige Erscheinungsform zuerkannte, eine Linie, die einzuhalten war und an der man zugleich sich maß. Wie groß nun immer der Anteil gewesen sein mag, den Ängstlichkeit, Wertbetonung der gesellschaftlichen Stellung, ferner das Behagen darüber, gerade auf

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