Die Strudlhofstiege
solche ihr sehr konvenierende Art dem Elternhaus entronnen zu sein – wie groß immer der Anteil dieser Umstände an Etelkas Verhalten gewesen sein mag: sie machten es keineswegs vollends aus, und sie begründeten es nicht.
So blieb diese Liebe durch mehr als drei Jahre unerklärt, aber wie ein unter dem Wasser scheinendes Licht gab sie dem ganzen Leben einen kristallischen Charakter und grundierte die zahlreichen gesellschaftlichen Anlässe, welche Etelka und Fraunholzer zusammenführten, mit einer gehöhten Lebendigkeit. Man kann sagen, daß Etelka Stangeler erst in Konstantinopel erlebt und genossen hat, was es heißt: jung sein, das Leben nirgends festgefahren und verbleit, sondern überall als halbdurchsichtigen Liquor zu sehen, voll Strömungen, Glitzern, Flirren, und unermeßlich tief und unverständlich durchleuchtet. Etelkas Jugend brach aus, wie hier der Frühling am Marmara-Meer. Hatte sie bisher – im Dresdener Pensionat und dann in der drückenden und scheuchenden Atmosphäre ihres Elternhauses – wahrhaft nicht erahnen können, was es heißt, frei und unbeschwert zu sein, so erlebte sie's hier: und gerade das verhinderte sie daran von ihrer Freiheit einen kurzschlüssigen Gebrauch zu machen – welchen der Unfreiheit daheim abzulisten sie niemals im geringsten gezögert hatte.
Dieses Leben in Konstantinopel dauerte drei Jahre, nämlich bis zum Zusammenbruche der alten Donaumonarchie am Ende des ersten Weltkrieges. Das Jahr 1919 fand Etelka mit Mann und Kind und ›Kegel‹ (letzterer in Gestalt einer treuen ungarischen Magd) wieder zu Wien im Elternhause, aber nicht für allzu lange Zeit. Denn die äußeren Verhältnisse und Umstände klärten sich für Grauermann dahin, daß er zunächst weiterhin im Staatsdienste verbleiben konnte, und zwar im königlich ungarischen. Nach der Wiederherstellung geordneter Verhältnisse in Ungarn wurde er dem Generalkonsulat in Wien zugeteilt; und so hielt die kleine Familie Einzug in jenes Palais in der Bankgasse, wo das Generalkonsulat nun untergebracht war. Im höchsten Stockwerk, in behaglichen und geräumigen Zimmern mit niederer Decke – denn bei einem barocken Baue verjüngt sich das Höhenmaß der obersten Räume sehr erheblich – hatte Grauermann seine hübsche und repräsentative Dienstwohnung erhalten. Etelka besaß viel alte Möbel, eben aus der Zeit, in welcher dieses Gebäude erbaut worden war, und so gewann ihr neues Heim durch den Zufall eine geschlossene Form.
In die nun folgenden Jahre fällt der Höhepunkt ihres Lebens. Was in Konstantinopel Möglichkeit geblieben war, ist hier Wirklichkeit geworden.
Der ›äußere Höhepunkt‹ sollte man wohl sagen, aber dieser Ausdruck hat etwas von Erfolg und Carrière im Beigeschmack, und das war es ja nun gar nicht, sondern der gerettete Kahn eines Staatsbeamten, aus den Trümmern des versinkenden Wracks einer Großmacht klug herausgesteuert und an einen nun selbständig weiterschwimmenden Teil dieses Wracks angehängt. Denn nicht das ungarische Vaterland allein, sondern die Doppelmonarchie hatte den Konsul Grauermann erzogen, ausgebildet und genährt. Ein nur äußerer Höhepunkt – gewiß, denn in der Geschichte einer Liebe ist die erhabenste Stelle nicht unbedingt jene, welche die Tür in ihre Angeln hängt und aufgehen läßt und den Blick frei gibt in erleuchtete Säle, die hier anschließen und das Dasein in eine Art von himmlischer Groß-Conditorei für eine Zeit zu verwandeln scheinen.
Doch wurden es im Jahre 1920 unsagbare Wiener Frühjahrstage.
Grauermann befand sich oft durch längere Zeit in Budapest. Amtliches führte ihn dorthin, später auch als Vorwand, hinter welchem er dort unten an seiner Zukunft betriebsam tätig war: denn sehr bald konnte der Konsul Grauermann erkennen, daß seine diplomatische Laufbahn auf einem durchaus toten Punkte sich festfuhr und daß der jetzige ungarische Staat – seltsamste Kreuzung zwischen einer unausgetragenen Republik und einer verhinderten Monarchie – seinen Beamten an Aussichten wenig eröffnen konnte. Damals mußte es für einen vernünftigen Menschen wie Grauermann zumindest so sich darstellen. Und so hat er denn in jenen Jahren seine Übersiedlung in die Privat-Industrie gründlich und ausdauernd vorbereitet und sie 1923 durchgeführt, als königlich ungarischer Konsul im Ruhestande, welche Charge ihm auch in der neuen Stellung nicht geschadet hat. Beim Eintritte dieser Wendung ist dann die Familie Grauermann nach Budapest in die schöne
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