Die Strudlhofstiege
Tone.
»Geh, laß ihn doch!« rief Asta gedämpft von gegenüber. »Er kann das Zeug halt, und der Alte freut sich darüber.«
Guys betrachtete Etelka amüsiert von der Seite. In diesen Augenblicken war's, daß er ein hier ganz unentbehrliches Oberwasser gewann. Hatte sie bisher noch wie eine verschlossene Pallas Athene ihn anstirnen können: nun hatte er sie in der Not gesehen, im Ringen um ihre Geltung, bei aufgesprungenem Türchen des Charakters, der durch Augenblicke tief hineinschauen ließ in seine Brüchigkeiten.
Nun, in bezug auf diese beiden hatte René (der's gleich wieder vergaß und kaum mehr daran dachte, bis er dann später die ersten Brief-Expedit-Aufträge bekam) sich an jenem Abende wirklich nicht getäuscht. Eine sehr merkwürdige Liebes-Affäre war hier im Werden, eine der seltsamsten jener Zeit in Wien. Was sie bei Guys anzog, was sie wohl bei ihm suchte? Eine Sicherheit vielleicht, die ihr sonst niemand bieten konnte, natürlich auch Grauermann nicht, eine Überlegenheit, die von einer Ebene kam, welche man in den Kreisen jener jungen Leute, die in Etelkas Elternhause verkehrten, freilich noch nicht antraf. Die Sache spielte schon einen Teil des Winters hindurch, lange bevor Renés etwas träge Instinkte ihm davon Kunde gegeben hatten. Nun, Etelka war vierundzwanzig Jahre alt. Es hat jede Affär' ihren Hintergrund, ihr Milieu, wie man sagt, das Leben ist immer der beste Regisseur: die Kulissen stimmen unsagbar gut zu dem, was gespielt wird. Wurden zum Beispiel des Omar Chajjâm weitabgewandte Verse gelesen, so bildete jenes stille, letzte, uns schon wohlbekannte Zimmerchen im ›Quartier Latin‹ einen unbestreitbar passenden Rahmen. Dem mehr weltlichen Fahrwasser hingegen, in welchem Etelkas und Emiles Beziehungen dahintrieben, war eine sehr exclusive, altrenommierte Weinstube in der Nähe der Augu stinerkirche angemessen, deren dunkle altdeutsche Einrichtung sich auch in den vorhandenen kleinen Chambres séparées wiederholte, und diese Möbel und die bleigefaßten wappengezierten Glasscheiben in den Türen der Büffets, die sonst Etelka Stangeler gewiß im höchsten Grade mißfallen hätten, als Ausgeburten der bei ihr nicht gut angeschriebenen ›Achtzigerjahre‹ – dieser Stil gewann hier eine ganz andere Bedeutung für sie: denn er repräsentierte jetzt für Etelka gewissermaßen das reifere Lebensalter ihres Partners, die ältere Generation: also genau das, was sie in diesem Falle anzog, was die Sensation für sie bildete. Man kann, wenn man gerade will, in dieser ersten ganz durchgeführten Aktion oder Campagne Etelkas vielleicht schon den Schlüssel finden zu ihrem Leben und zu ihrem Untergange überhaupt. Sie hat, den Vater vermeidend, ihn doch immer wieder zuinnerst gesucht und sich ihn anzueignen getrachtet. Am Ende sogar mit Erfolg. Sie suchte zweifellos eine Linie, einen Zwang in den Schienen, eine Leitung. Dies war auch der Sinn ihres zu Zeiten recht wackeren Musikstudiums, denn Etelka war nicht nur auf dem Wege, eine Pianistin zu werden, sondern ihr Gesang wurde von einer älteren Freundin, der Hofopernsängerin Cornelia Wett, für eine erhebliche Chance gehalten, wobei der genannten Dame (einer damals internationalen Koryphäe) freilich Etelkas Bestrebungen am Instrument völlig gleichgültig blieben: sie wollte nur, daß Etelka singe. Aber in der ganzen Seelenmischung des Fräuleins von Stangeler fehlte entschieden ein gewisses bitteres Gewürz, das auch zum Begehen steilerer und engerer Wege der Mühe befähigt und zugleich jene Fäulnis abgewehrt hätte, in welche ungenutzte Begabungen überzugehen pflegen. Jedes vergrabene Pfund entsendet einmal eine kleine Pestilenz an die Oberfläche der Seele, ebenso wie diese Oberfläche blind und undurchsichtig wird, wenn man dort die Pfunde über Gebühr auswalzt und ausmünzt.
Ja, sie suchte eine Linie, eine Führung. Aber sie konnte andererseits die Escapaden nicht lassen, nie, und es steht keineswegs fest, ob nicht neben Guys noch andere exerziert wurden. Das Leben sieht bei solchen andauernden Mechanismen eine Reihe von Jahren hindurch zu. Aber als Etelka noch selbst auf 's Spiel setzte, was sie als allerbesten Halt endlich gefunden und gewonnen hatte: da öffnete sich sozusagen der Boden unter ihr, alles wurde erst wackelig, dann gleitend, schemenhaft, zuletzt stürzend und nicht mehr wiederzuerkennen.
Wie lange die lebhafte Beziehung zu Guys gedauert hat, ist schwer zu sagen. Ein oder das andere Jahr vor dem ersten
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