Die Strudlhofstiege
Bäume des Nachbargartens, hintereinander stehende große Eschen, bis über die Höhe des zweiten Stockwerks mit ihren breiten Kronen in die Sonnenbahn empor. Dieses geräumige Hinterzimmer, vor dessen beiden Fenstern ein langer, schmaler Balkon vorbeilief, lag nach Norden, war ohne Sonne und daher sogar jetzt im Juli fast kühl.
Nicht ohne eine gewisse Ernüchterung hat sich René damals erhoben, kalt geduscht und sodann angekleidet. Damit zu Ende gekommen, betrat er dann zerstreut ein an seinen Raum anschließendes Kabinett. Hier gab es nur wenige Möbel. Die Glastür auf den Balkon stand offen. Über den roten Kaminen der Häuser sah das Blau dampfig und sehr entfernt aus. Der vom morgendlichen Gießen feuchte wilde Wein am Geländer des Balkons, welcher aus einer Reihe grüner Kistchen wuchs, und die da und dort in großen Blumentöpfen stehenden Blattgewächse rochen erdig und zugleich geil wuchernd. Plötzlich ließ sich der kurze und gleichsam scharfe Schritt des Vaters hören, durch die benachbarten Zimmer herankommend.
Die Lage des Herrn von Stangeler war zu der Zeit keine leichte. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo – ein alarmierendes Faktum, das wenige Tage alt war und nur der Gedankenlosigkeit junger Menschen so ganz hatte entgleiten können – ließ eine deutlich absehbare Kriegsgefahr über den Horizont steigen, und mit ihr kamen die bevorstehenden Arbeiten in Bosnien, welche eben jetzt, der knappen Termine und hohen Pönale wegen, entschieden angepackt sein wollten, durchaus in's Schwanken. Auf der Villa hatte die Mutter ihm zudem in den Ohren gelegen, ob er nichts von René wisse, ob der nun seine Matura bestanden habe oder nicht? (Matura?! darauf hatte der Herr von Stangeler im Drange seiner Tätigkeit allerdings vollends vergessen gehabt.)
Die Tür ging nicht nur sehr plötzlich auf, sondern sie explodierte gleichsam, als hätte ein Überdruck dahinter geherrscht. »Was treibst du hier?! In welcher Klasse bist du jetzt eigentlich?!« »Ich war in der achten.« »Dann mußt du ja Maturitätsprüfung machen?!« »Ich hab' sie gestern bestanden.«
»Und der Mama keine Nachricht gegeben, was?! Da sitzt man draußen und macht sich Sorgen! Brutales Tier!«
Eine kräftige Ohrfeige knallte. Dann zog der Vater sein Portefeuille hervor. »Da hast.« Er warf ihm eine Spende von fünfzig Kronen hin (für einen Gymnasiasten damals ein außerordentlich hoher Betrag). »Marsch!« brüllte er gleich darauf, »verschwinden! Heute noch hinausfahren!« René wandte sich gegen die Türe seines Zimmers.
Aber beim Abgange folgte ihm noch ein recht ausgiebiger Tritt in jene Körpergegend, welche der Vater des Leutnants Melzer während seiner langen Dienstzeit als Cavallerist stark hat in Anspruch nehmen müssen.
Im Leben der Etelka Stangeler hat es zwei Wendepunkte gegeben: der erste war gekommen als sie, nach ihrer Ankunft auf dem Hauptbahnhof in Konstantinopel, vom Waggon herabkletternd, den rechten Fuß am Bahnsteig aufsetzte: Der Konsul Robby Fraunholzer, ein älterer Kollege Grauermanns, hatte dort das junge Paar schon erwartet, welches nach einer zu Wien im Frühjahr 1915 trotz des Krieges sehr festlich gehalte nen Hochzeit, nunmehr an dem Dienstorte des neuen Vicekonsuls und Ehemannes eingetroffen war. Fraunholzer half Etelka beim Aussteigen. Und hier sollten sie nun leben. Und es wurde wirklich ein Stück Leben. Freilich, denn hier begann's ja schon damit, daß der Mann ihr entgegentrat, welcher wie ein Blitz in Etelka alle bisherigen Lichter und Lichterchen zu fahlem Schein und Gelichter machte: so mächtig traf sie, in der rauchigen Halle, zwischen dem Gepäck und den trocken klingenden Lauten einer fremden Sprache (trocken wie eine baumlose Landschaft), in welcher ihr Mann mit dem Gepäckträger sprach, der Strahl einer nie empfundenen Faszination. Der zweite Wendepunkt zeigte sich zehn Jahre später, 1925 zur Zeit des Nachsommers: im einzigen komfortabeln Hotel jenes Alpendorfes in Niederösterreich, wo Etelkas Vater seine Besitzung hatte; übrigens beim Anlasse einer Art von Fest, zu welchem die Situation sich damals entwickelte … Durch das Eintreffen Fraunholzers gewissermaßen. Nun, es war der Punkt, wo Fraunholzer dahin kam, an Etelka zu verzweifeln. Und es hat sich dieser einmal gesetzte Akt bei ihm wesentlich nicht mehr rückgängig machen lassen.
Es war damals, als der zufällig anwesende Major Melzer ganz allgemein von einer nicht nur depressiven, sondern
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