Die stumme Bruderschaft
tränenüberströmt, sein zerfetzter Rücken blutete.
»Genug! Haltet ein!«
»Du wagst es, Befehle zu geben?«, schrie Maanu.
»Du bist ein Feigling, zwei alte Männer zu foltern ist eines Königs nicht würdig!«
Mit der Rückseite der Hand ohrfeigte Maanu seine Mutter. Diese taumelte und fiel zu Boden. Die Anwesenden schrien entsetzt auf.
»Sie werden hier sterben, vor aller Augen, wenn sie mir nicht sagen, wo das Grabtuch ist, und ihre Komplizen auch, alle, ganz gleich, wer.«
Zwei Wachen kamen mit Marcius herein, gefolgt von seinen beiden verängstigten Dienern.
Maanu wandte sich an sie.
»Hat er euch gesagt, wo das Grabtuch ist?«
»Nein, mein König.«
»Peitscht ihn, bis er spricht!«
»Wir können ihn auspeitschen, aber er wird nichts sagen. Seine Diener haben es gestanden, er hat etwas Schreckliches getan: Er hat sich die Zunge abgeschnitten.«
Die Königin sah Marcius an, und dann wanderte ihr Blick hinüber zu Thaddäus’ reglosem Körper und zu Josar. Ihr wurde klar, dass die Männer sich hatten verstümmeln lassen, damit die Folter sie nicht besiegen konnte und das Geheimnis um das Grabtuch bewahrt blieb. Sie begann zu weinen, weil das Opfer ihrer Freunde sie schmerzte. Ihr Sohn würde sie dafür teuer bezahlen lassen.
Maanu zitterte. Sein Gesicht war zornesrot. Marvuz ging auf ihn zu, er fürchtete sich vor seiner Reaktion.
»Mein König, wir werden jemanden finden, der weiß, wo das Tuch ist, wir werden ganz Edessa absuchen, und wir werden es finden …«
Der König hörte ihm nicht zu. Er zog seine Mutter vom Boden hoch, schüttelte sie und schrie:
»Sag mir, wo es ist, los, oder ich reiße dir die Zunge heraus!«
Die Königin schluchzte, und ihr Körper bebte. Ein paar Adelige des Hofes wollten eingreifen, sie schämten sich, tatenlos zuzusehen, wie Maanu seine Mutter schlug. Wenn Abgarus noch lebte, er hätte ihn umbringen lassen!
»Herr, lasst sie«, flehte einer.
»Mein König, beruhigt euch, schlagt eure Mutter nicht«, bat ein anderer.
»Ihr seid der König, Ihr müsst Milde walten lassen«, sagte ein Dritter.
Marvuz hielt den König am Arm fest, als er die Königin wieder schlagen wollte.
»Herr!«
Maanu ließ den Arm sinken und stützte sich auf Marvuz. Er fühlte sich von seiner Mutter und den beiden Alten verhöhnt und war erschöpft. Der Zorn hatte ihm die Kraft geraubt.
Marcius betrachtete das Ganze mit gefesselten Händen. Er bat Gott, sich ihrer zu erbarmen. Er dachte an Jesus’ Leiden am Kreuz und bei der Folter durch die Römer, und daran, wie er ihnen verziehen hatte. Er suchte in seinem Innern nach Vergebung für Maanu, aber er empfand nur Hass.
Der Anführer der königlichen Leibwache übernahm das Kommando und befahl, die Königin in ihre Gemächer zu bringen. Er geleitete den König zum Thron und reichte ihm ein Glas Wein, das er gierig austrank.
»Sie sollen sterben«, flüsterte er.
»Das werden sie«, antwortete Marvuz.
Er machte den Soldaten ein Zeichen, und sie schleppten Thaddäus und Josar weg, beide ohnmächtig vor Schmerz. Marcius weinte still in sich hinein. Jetzt würden sie sich an ihm rächen.
Der König hob den Kopf und sah Marcius direkt in die Augen.
»Ihr Christen werdet alle sterben. Eure Häuser, eure Landgüter, all euren Besitz werde ich unter meinen Getreuen aufteilen. Du, Marcius, hast mich doppelt verraten. Du bist einer der bedeutendsten Männer von Edessa, und du hast dein Herz an diese Christen verkauft, die dich so verhext haben, dass du dir sogar die Zunge herausgeschnitten hast. Ich werde das Leintuch finden und es zerstören. Das schwöre ich.«
Auf Marvuz’ Zeichen nahm ein Soldat Marcius mit.
»Der König will sich ausruhen. Es war ein langer Tag«, verabschiedete Marvuz die Höflinge.
Als sie allein waren, umarmte Maanu seinen treuen Gefährten und fing an zu weinen. Seine Mutter hatte ihm die Lust an der Rache genommen.
»Ich will, dass die Königin stirbt.«
»Sie wird sterben, Herr, aber Ihr müsst warten. Lasst uns erst das Grabtuch suchen und die Christen auslöschen. Dann kommt die Königin an die Reihe.«
In jener Nacht waren die Angstschreie und das Knistern des Feuers bis in die letzten Winkel des Palastes zu hören. Maanu hatte den letzten Willen seines Vaters verraten.
18
Sofia hatte Pater Yves rufen lassen. Der Priester irritierte sie. Sie wusste nicht, warum, aber sie hatte den Eindruck, dass eine gewisse Verschlagenheit hinter seiner Liebenswürdigkeit und seinem Entgegenkommen
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