Die stumme Bruderschaft
frage mich, was das soll.«
»Ich bin nicht an Gerüchten interessiert! Warum haben Sie die Einladung angenommen?«
»Gute Frage!«
»Dann beantworten Sie sie!«
Der Priester sah sie durchdringend an. Die Intensität seines Blickes ließ sie erröten.
»Ich halte Sie für eine ernste und kompetente Person.«
»Das ist keine Antwort.«
»Doch.«
Keiner von beiden hatte einen Bissen angerührt. Pater Yves bat um die Rechnung.
»Ich hatte Sie eingeladen.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, zahlt das Episkopat.«
»Ich glaube, es liegt ein Missverständnis vor; wenn ich daran schuld gewesen sein sollte, verzeihen Sie.«
Pater Yves sah sie erneut an. Diesmal war der Blick ruhig, gleichgültig wie zuvor.
»Lassen wir das.«
»Ich mag keine Missverständnisse, ich möchte …«
Er winkte ab.
»Es ist unwichtig, lassen wir es.«
Sie gingen auf die Straße hinaus. Die Sonne schien warm. Sie gingen schweigend nebeneinander her bis zur Kathedrale. Plötzlich blieb der Priester stehen und sah sie an. Sie hielt seinem Blick stand und bemerkte überrascht, dass er lächelte.
»Ich lade Sie zu einem Kaffee ein.«
»Sie laden mich zu einem Kaffee ein?«
»Na ja, zu was Sie wollen. Vielleicht war ich ein wenig unwirsch zu Ihnen.«
»Und deswegen laden Sie mich zu einem Kaffee ein?«
»Ach, es gibt Menschen, die sind aufbrausend, und ich glaube, Sie und ich, wir fallen unter diese Kategorie.«
Sofia lachte. Sie wusste nicht, warum Pater Yves seine Meinung geändert hatte, aber sie war froh.
»Einverstanden.«
Er fasste sie sanft am Arm und sie überquerten die Straße. Sie gingen um die Kathedrale herum zu einem alten Café mit Tischen aus poliertem Mahagoniholz und Kellnern mit grau meliertem Haar.
»Ich habe Hunger«, sagte Pater Yves.
»Kein Wunder, wir haben ja nichts gegessen, weil Sie sich so aufgeregt haben.«
»Wir könnten etwas Süßes bestellen, was meinen Sie?«
»Süße Sachen sind nicht mein Fall.«
»Was möchten Sie dann?«
»Nur Kaffee.«
Sie bestellten, und dann saßen sie einander erwartungsvoll gegenüber.
»Wen haben Sie in Verdacht, Dottoressa?«
Die Frage warf sie aus der Bahn. Pater Yves überraschte sie immer wieder.
»Sind Sie sicher, dass Sie über den Vorfall in der Kathedrale sprechen möchten?«
»Legen Sie los!«
»Okay. Wir haben keinen konkreten Verdacht, wir haben keine Spuren, aber etwas passt da nicht zusammen. Marco, mein Chef, glaubt, dass die Vorfälle mit dem Grabtuch zu tun haben.«
»Mit dem Grabtuch? Wieso das?«
»Weil nirgendwo in Europa so viele Unfälle passieren wie in der Kathedrale von Turin und weil das Grabtuch dort aufbewahrt wird. Es ist mehr eine Ahnung.«
»Aber dem Grabtuch ist doch Gott sei Dank nie etwas geschehen. Ich kann da keinen Zusammenhang sehen.«
»Ahnungen sind schwer zu erklären, aber Marco hat uns damit angesteckt.«
»Glauben Sie, irgendjemand könnte das Grabtuch zerstören wollen, wie es mit der Pietà von Michelangelo passiert ist? Irgendein Verrückter, der berühmt werden will?«
»Das wäre die einfachste Erklärung. Aber was ist mit den Stummen?«
»Gut, es gibt zwei Stumme, aber Zufälle gibt es, Dottoressa, auch wenn Sie nicht daran glauben.«
»Wir glauben, dass der Stumme im Gefängnis …« Sofia hielt inne, beinahe hätte sie diesem charmanten Priester ihren Plan verraten.
»Fahren Sie fort.«
»Schön, wir glauben, dass der Stumme im Gefängnis etwas weiß.«
»Ich vermute, Sie haben ihn schon befragt.«
»Er ist stumm und scheint nichts von dem zu verstehen, was man ihm sagt.«
»Haben Sie ihn auch schriftlich befragt?«
»Ja, ohne Ergebnis.«
»Dottoressa, und wenn alles viel einfacher wäre? Wenn es wirklich Zufall wäre?«
Sie unterhielten sich eine ganze Stunde lang, aber das Gespräch brachte Sofia nicht weiter. Pater Yves hatte ihr nichts Wichtiges gesagt. Sie hatten eine angenehme Zeit verbracht, aber das war alles.
»Wie lange bleiben Sie noch in Turin?«
»Ich reise morgen ab.«
»Zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn ich Ihnen helfen kann.«
»Das werde ich mir zweimal überlegen, am Ende werden Sie wieder wütend.«
Sie verabschiedeten sich freundschaftlich. Pater Yves sagte, er werde sie anrufen, wenn er wieder einmal in Rom sei. Sofia versprach umgekehrt dasselbe. Reine Höflichkeit.
Marco hatte das Treffen für ein Uhr anberaumt. Er wollte den anderen den Plan für die Freilassung des Stummen erläutern.
Sofia kam als Letzte. Sie wirkte irgendwie verändert. Sie war so
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