Die stumme Bruderschaft
und allein Abgarus, niemand, nicht einmal ihre Kinder, hatten sie auch nur eine Sekunde von der Seite des Königs wegreißen können. Außer Maanu hatte sie noch vier weitere Kinder auf die Welt gebracht. Drei Mädchen und einen Jungen, der kurz nach der Geburt gestorben war. Ihre Töchter hatten sie wenig interessiert. Es waren stille Mädchen, die bald verheiratet wurden, um die Bündnisse mit anderen Königreichen zu stärken. Sie hatte ihren Weggang kaum bemerkt, so stark war ihre Liebe zum König gewesen.
Deswegen hatte sie auch den Schmerz über Abgarus’ Liebe zu Ania still ertragen. Es war nicht ein Vorwurf über ihre Lippen gekommen, nichts sollte ihre Beziehung stören.
Sie hatte keine Zeit für Maanu gehabt, sie war ganz in ihrer Liebe zu Abgarus aufgegangen, so nahe waren sie sich gewesen.
Jetzt, wo sie bald sterben würde, denn Maanu würde sie nicht verschonen, spürte sie den Verrat, den sie an ihrem Sohn begangen hatte. Wie egoistisch war sie gewesen! Ob Jesus ihr verzeihen würde?
Die kräftige theatralische Stimme Maanus drang in das königliche Gemach.
»Ich will meinen Vater sehen.«
»Er ist tot.«
Maanu sah sie herausfordernd an.
»Dann bin ich jetzt der König von Edessa.«
»Das bist du, und alle werden dich anerkennen.«
»Marvuz. Bring die Königin fort.«
»Nein, mein Junge, noch nicht. Mein Leben liegt in deiner Hand, aber erst werden wir Abgarus beerdigen, wie es einem König gebührt. Gestatte mir, seine letzten Anweisungen zu befolgen, die der königliche Schreiber dir vorlesen wird.«
Ticius trat ängstlich mit einer Pergamentrolle in der Hand auf sie zu.
»Mein König, Abgarus hat mir seinen letzten Willen diktiert.«
Marvuz flüsterte etwas in Maanus Ohr. Der blickte sich um und stellte fest, dass der Anführer der königlichen Leibwache Recht hatte: Da standen die Diener, Schreiber, Wachen und Höflinge und beobachteten die Szene. Er durfte sich nicht vom Hass leiten lassen, zumindest nicht so offenkundig, dass seine künftigen Untertanen sich vor ihm fürchteten und gegen ihn konspirierten, statt mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Königin hatte wieder einmal gewonnen. Er hätte sie am liebsten auf der Stelle eigenhändig getötet, aber er musste warten und seinen Vater wie einen König beerdigen.
»Lies, Ticius«, befahl er.
Mit zittriger Stimme las der Schreiber Abgarus’ letzte Verfügungen vor. Maanu schluckte, rot vor Zorn.
Abgarus hatte verfügt, dass eine christliche Messe gehalten werden und der ganze Hof für seine Seele beten solle. Maanu und die Königin sollten anwesend sein. Drei Tage und drei Nächte sollte der Körper in dem ersten Tempel aufgebahrt bleiben, den Josar bauen ließ. Nach den drei Tagen sollte ein Gefolge mit Maanu und der Königin an der Spitze ihn ins königliche Mausoleum überführen.
Ticius räusperte sich und schaute erst zur Königin und dann zu Maanu. Aus der Falte seines Ärmels zog er ein weiteres Pergament.
»Wenn du mir erlaubst, Herr, werde ich auch vorlesen, was Abgarus von dir als König fordert.«
Ein Raunen ging durch die Anwesenden. Maanu biss die Zähne zusammen, mit Sicherheit hatte sein Vater ihm noch im Tod eine Falle gestellt.
»Ich, Abgarus, König von Edessa, befehle meinem Sohn Maanu, der König geworden ist, die Christen zu respektieren und ihnen zu erlauben, ihre Religion weiter auszuüben. Auch mache ich ihn verantwortlich für die Sicherheit seiner Mutter, der Königin, deren Leben mir so am Herzen liegt. Die Königin darf den Ort wählen, wo sie leben will, sie ist mit dem ihrem Rang gebührenden Respekt zu behandeln, und es soll ihr an nichts mangeln.
Du, mein Sohn, bist der Garant für meine Befehle. Wenn du diesen meinen letzten Willen nicht erfüllst, wird Gott dich bestrafen, und du wirst keinen Frieden finden, weder im Leben noch im Tod.«
Alle Blicke waren auf den neuen König gerichtet. Maanu zitterte vor Wut, und Marvuz ergriff die Initiative.
»Wir werden uns von Abgarus verabschieden, wie er es gewünscht hat. Und jetzt macht sich jeder wieder an seine Arbeit.«
Langsam verließen die Anwesenden das königliche Gemach. Die Königin, blass und still, wartete, wie ihr Sohn entscheiden würde.
»Du verlässt den Raum nicht, bis man dich ruft. Du wirst mit niemandem innerhalb oder außerhalb des Palastes sprechen. Zwei Dienerinnen bleiben bei dir. Wir werden meinen Vater beerdigen, wie er es wollte. Und dich, Marvuz, mache ich dafür verantwortlich, dass meine Befehle ausgeführt
Weitere Kostenlose Bücher