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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chahdortt Djavann
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sobald ich etwas aß, übergab ich mich. Es war, als wollte ich das Kind ausspeien, das in meinem Leib heranwuchs. Während der Schwangerschaft konnte ich den Geruch des Mullahs nicht ertragen; sobald er sich mir näherte, wurde mir schlecht. Also ließ er mich in Ruhe, um des Wohls des Kindes willen, und ging jeden Abend in Zahras Zimmer. Er war glücklich, wieder Vater zu werden, und wünschte sich einen Sohn. Ich war noch keine vierzehn Jahre alt und sollte das Kind eines Mannes gebären, den ich verabscheute.
    Für Zahra war es unerträglich zu wissen, dass ich schwanger war, denn sie konnte keine Kinder bekommen. Unentwegt suchte sie Streit und warf mir vor, meine Arbeit nicht sorgfältig zu machen. Ich konnte die erste Frau nicht mehr pflegen. Beim Geruch der Exkremente musste ich mich sofort übergeben. Ich sprach darüber mit dem Mullah, und er ordnete an, Zahra solle mich während meiner Schwangerschaft ersetzen, was ihre Feindseligkeit mir gegenüber nur noch stärker werden ließ; im Gegenzug musste ich
kochen und den Hof sauber halten. Eines Tages stellte sie mir ein Bein; ich fiel auf den Bauch. Ich war im fünften Monat schwanger und glaubte, ich würde eine Fehlgeburt haben. Der Gedanke, das Kind zu verlieren, störte mich im Grunde nicht, es war kein Wunschkind, beileibe nicht, aber bei dem Sturz tat ich mir weh, und ich hatte genug von ihrer Bosheit. Also stand ich auf und sprang auf sie. Wir kämpften miteinander. Am Abend erzählte sie dem Mullah ihre Version. Dann kam er zu mir, und ich erzählte ihm meine. Er befahl mir, mit ihm zu kommen; ich folgte ihm ins Zimmer von Zahra; dann folgten wir ihm beide in den Keller. Er schloss uns im Dunkeln ein und sagte, wenn wir nicht imstande wären, uns vernünftig zu benehmen, müsse er eben nachhelfen, indem er unsere Hände fesselte. In dieser Nacht, im Kellergeschoss, traf ich meine Entscheidung.

D eine Hinrichtung findet an diesem Freitag statt.«
    »Danke.«
    »Wofür?«
    »Dass du mir das sagst.«
    Nach ein paar Sekunden Schweigen fügte er hinzu: »Ich heiße Arasch und stamme aus Chiraz.«
    Ich betrachtete seine Augen, sie hatten die Farbe des Honigs, der Sonne, die Farbe der Hoffnung. Ich spürte etwas, das ich in meinem Leben nie kennen gelernt habe.
     
    Man wird mich auf demselben Platz hinrichten, auf dem die Stumme gehängt wurde. Merkwürdig, in dem Moment, da sie gehenkt wurde, sah ich mich bereits an ihrer Stelle, spürte ich die Schlinge um meinen Hals. Ich habe keine Angst vor dem Tod, er ist zu unbegreiflich. Mit fünfzehn ist man zu jung, um Angst vor dem Tod zu haben.

    Meine Entbindung verlief schwierig. Über dreißig Stunden dauerte mein Martyrium; ich verfluchte den Himmel und die Erde, den Mullah und sein Kind. Es wollte nicht auf die Welt kommen. Der Mullah hatte eine Hebamme zu uns nach Hause gerufen, er wollte eine natürliche Geburt. Dann folgte seine Enttäuschung, es war ein Mädchen. Ich nahm es nicht in die Arme. Ich fühlte mich nicht als Mutter. Ich glaubte, vor Erschöpfung sterben zu müssen.
    Vierzig Tage nach der Entbindung tauchte der Mullah wieder in meinem Zimmer auf. Wie zuvor drang er in mich ein, ohne sein Gewand ausziehen; ich weiß nicht, ob es an der schmerzhaften Entbindung lag, an der monatelangen Einsamkeit oder an dem Säugling, der neben mir schlief, aber ich spürte überhaupt nichts und blieb reglos unter seinem Körper liegen. Nach dem Koitus zog er sich aus mir zurück, stand auf und ging in sein Zimmer. Er kam wieder jede zweite Nacht. Und jede zweite Nacht malte ich mir unter den Stößen des Mullahs die Szene aus. Ich betrachtete seine Halsschlagader auf der rechten Seite, weil ich Linkshänderin bin; ich musste präzise sein und kühles Blut bewahren; ich durfte nicht riskieren, eine ungeschickte Bewegung zu machen. Ich hatte es
mir so oft vorgestellt, dass ich es im völligen Dunkel hätte ausführen können. Und schließlich habe ich es getan.
    Ich hatte das Messer geschliffen, es unter der Matratze versteckt und ihm tief in die Kehle gerammt, während sein Geschlecht in mir war. Dann stieß ich ihn zurück und stach mehrmals mit dem Messer auf seine Brust ein. Er lag in einer riesigen Blutlache. Ich blickte den schlafenden Säugling an und dachte dabei an das Sprichwort, das meine Mutter so gern im Munde führte: »Keiner kann gegen sein Schicksal an …« Seines hatte von der Wiege an unter einem schlechten Stern gestanden; ihn Zahra oder meiner Mutter zu überlassen, wäre ein Verbrechen

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