Die Stunde der Hexen - Midnight Hour 4 - Roman
Flieger gesetzt, und sie hätte eigentlich weit weg von Carl sein sollen. Wie hat er sie in die Finger bekommen?«
Seine Haltung änderte sich. Ein Teil der Wachsamkeit ließ nach und wurde von … etwas ersetzt. Die neue Anspannung, die seine Gesichtszüge verzerrte, konnte ich nicht deuten. War es vielleicht Trauer? Ich wartete, bis er sich gesammelt hatte.
Als er endlich sprach, klang seine Stimme sanft und zögerlich.
»Sie hat ihn vom Wartebereich aus angerufen. Ich glaube, sie hat kalte Füße gekriegt. Sie hat oft davon gesprochen, abzuhauen, wenn er nicht da war. Aber es war, als spräche sie davon, im Lotto zu gewinnen. Niemand glaubt daran, am wenigsten man selbst. Dann drehte sie sich noch im selben Atemzug um und sagte, wie sehr sie ihn liebte. Dass sie ihm nicht wehtun wollte. Als sei es egal, wie sehr er ihr wehtat.« Seine Miene verdüsterte sich. »Als sie verschwand, war ich froh. Ich dachte, sie hätte es wirklich getan, wäre von ihm weggekommen, hätte die Stadt verlassen. Mir war egal, wie, mir war egal, wohin; es war einzig und allein wichtig, dass sie fort war. Doch sie hat ihn angerufen, und Carl hat es ihr ausgeredet. Hat die ganze ›wir sind ein Rudel, wir sind eine Familie, ich brauche dich‹-Scheiße abgezogen. Er hatte sie immer noch in seinem Bann. Ich kann ihr im
Grunde keinen Vorwurf machen - es ist hart, wegzugehen. Du weißt das.«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nicht hart. Das Harte daran ist zu wissen, dass T.J. vielleicht noch am Leben wäre, wenn ich es früher getan hätte.«
»Ja.«
»Sie hat ihn angerufen. Er hat sie am Flughafen abgeholt. Er hat sie weggebracht - wohin? Zu ihrem Haus?« Meg und Carl hatten ein Haus westlich der Stadt, in der Nähe des Vorgebirges, von dem man leicht die Wildnis erreichte und in Vollmondnächten rennen konnte.
»So weit sind sie nicht gekommen«, sagte Shaun. Rasch fügte er hinzu: »Ich bin nicht dabei gewesen. Ich habe später davon gehört. Wäre ich dort gewesen, hätte ich versucht, ihn aufzuhalten. Aber ich habe mich von ihm ferngehalten. Im Moment ist er in irgendso eine Scheiße von Arturo verstrickt, und damit will ich nichts zu tun haben.«
»Es sind ein paar andere Lykanthropen in der Stadt gewesen«, sagte ich. »Fremde. Carl hat das Rudel auf sie gehetzt. Er hat Jenny bei den übrigen Leichen zurückgelassen. Als er sie vom Flughafen abgeholt hat, muss er gewusst haben, dass er sie umbringen würde.«
»Du kennst ihn so gut wie ich. Sag du’s mir.«
»Du wusstest, was er tun würde, und du hast noch nicht einmal versucht, ihn aufzuhalten.«
»Was hast du von mir erwartet?«, rief er.
Ich zuckte nicht zusammen, weil sein Zorn nicht gegen mich gerichtet war. Es war aber auch egal, denn ich war ohnehin schon wütend genug auf mich selbst. Ich war so
nahe dran gewesen. Sie war so nahe dran gewesen. Wie konnte sie am Bordstein gewartet haben, wie konnte sie in sein Auto eingestiegen sein, obwohl sie ihn so gut gekannt haben musste? Obwohl sie wusste, dass er ihr zumindest wehtäte? Obwohl sie wusste, dass er fähig war, sie umzubringen.
Die Schuld gab ich den dummen Sicherheitsbestimmungen, die besagten, dass ich sie nicht zum Flugzeug begleiten konnte, ohne mir selbst ein Ticket zu kaufen. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht reichte, sie bis zu dem Metalldetektor zu bringen. Den Seufzer der Erleich - terung hätte ich nicht ausstoßen sollen, bevor ich nicht den Anruf von Alette erhalten hatte, dass Jenny sicher eingetroffen sei. Warum war ich so verdammt vertrauens - selig ? Ich konnte mir vorstellen, was Carl ihr gesagt hatte: Du brauchst mich, ich kann mich um dich kümmern, du bist noch ein Junges, du bist zu schwach, um allein zu sein, lass mich dich abholen, ich werde dich vor dir selbst beschützen. Er hatte bestimmt auf sie eingeredet, bis nichts mehr übrig war. Kein Selbstvertrauen, kein Ziel - kein Ich.
Und ein Teil von ihr liebte ihn trotz allem. Natürlich würde sie ihn anrufen. Natürlich würden Zweifel in ihr aufsteigen, wenn ihr niemand auseinandersetzte, was sie alles gewann, indem sie ihn verließ. Ich lehnte mich gegen die verrußte Backsteinmauer in der Gasse, wischte mir die Augen und blinzelte schniefend die Tränen zurück. Es half nichts. Ich fühlte mich mitgenommen und erschöpft.
»Wenigstens hast du es versucht«, sagte Shaun. »Das ist
mehr, als sonst jemand getan hat.« Er sah weg - trug an seinem eigenen Teil der Schande.
»Du konntest Carl genauso wenig die Stirn bieten wie
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