Die Stunde der Hexen - Midnight Hour 4 - Roman
ich schnell genug weglaufen konnte, falls ich ihn falsch eingeschätzt haben sollte.
Umgekehrt musste ich hoffen, dass er trotz seines Einzelgängertums genug vom Rudel mitbekam, um mir sagen zu können, was mit Jenny passiert war.
Früher - vor nur einem Jahr, ich musste mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass ich das Rudel erst vor einem knappen Jahr verlassen hatte -, hatte Shaun als Koch in einem angesagten Café in Lodo, in der Nähe des Baseballstadions, gearbeitet; gewöhnlich die Spätschicht. Komisch, wie viele Lykanthropen gern spät arbeiteten. Zuerst rief ich an, um mich zu erkundigen, ob er immer noch dort arbeitete. Das tat er, ja, er war sogar zum Chefkoch der Spätschicht befördert worden. Anscheinend hatte der Kerl Ambitionen. Ich tauchte kurz nach dem ersten abendlichen Andrang auf und ging auf den Hintereingang zu. Durch eine offene Tür in dem Seitengässchen, das hinter das Gebäude führte, betrat man einen sauberen, weißen Arbeitsbereich mit Küche. Ein Küchenjunge warf einen Müllbeutel in einen Container in der Nähe, und Stimmen, das Geklapper von Geschirr und das Geräusch spritzenden Wassers drangen nach draußen; ein Kontrast zu dem Verkehrslärm um die Ecke. Der Duft von reichhaltigem Essen und wunderbaren Gewürzen,
den die heiße Luft aus der Küche mit sich brachte, überdeckte die Gerüche der Stadt vollständig. Der tröstliche Geruch brachte mich zum Lächeln.
»Hey!«, rief ich dem Jungen zu, als er sich umdrehte, um wieder hineinzugehen.
»Ja?« Er war mürrisch, misstrauisch, auf seine Arbeit versessen und wahrscheinlich nicht gewöhnt, draußen hinter dem Haus blonde junge Frauen herumspazieren zu sehen.
»Kannst du Shaun sagen, dass hier jemand ist und mit ihm sprechen möchte?«
»Er kennt dich?«
»Sag ihm, es ist Kitty.« Ich entschied mich, ehrlich zu sein. Wenn Shaun nicht herauskommen und mit mir reden wollte, würde ich stattdessen hineinmarschieren und dort mit ihm sprechen.
Der Küchenjunge nickte und ging wieder hinein, während mir etliche Minuten nichts anderes zu tun übrigblieb, als mit den Turnschuhen den Asphalt aufzuscharren. Hineingehen wollte ich eigentlich nicht. Ich würde es vorziehen, das Ganze draußen zu erledigen, im Freien. Neutrales Territorium - zahlreiche Fluchtwege.
Ich sollte das hier nicht machen. Die Stadt zu verlassen war eine völlig akzeptable Alternative.
Ein junger Mann von durchschnittlicher Größe und fester Statur erschien im Türrahmen. Er lehnte sich an den Pfosten, die Arme verschränkt, die Schultern hochgezogen. Die wachsame, abwehrende Haltung legte nahe, dass er keinen Kampf anfangen würde - doch Boden verlieren würde er auch nicht. Er hatte dunkles kurzes Haar
und milchkaffeebraune Haut, trug einen weißen Kochkittel über Hemd und Jeans und hatte den wilden, Fell-unterder-Haut-Geruch eines Lykanthropen. Jemand, der nicht wusste, worauf zu achten war, hätte es ihm niemals angesehen.
»Hi Shaun«, sagte ich in der Hoffnung, freundlich und nicht bedrohlich zu klingen. »Wie geht es dir?«
»Was machst du hier?«, fragte er statt einer Begrüßung. Er gab sich nicht die Mühe, freundlich zu klingen, und ich konnte es ihm nicht verdenken.
»Erzähl mir von Jenny.«
Kopfschüttelnd sah Shaun weg. »Ich kann mich nicht mit dir unterhalten. Carl ist stinksauer. Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen, wie er auf dich ist.« Und das wollte etwas heißen. Carl war häufig wütend.
»Nicht so rasend, wie er noch sein wird.« Ich setzte ein unheimlich süßes Lächeln auf.
Shaun hatte sich vom Türrahmen geschält und angefangen, wieder hineinzugehen, doch meine Worte brachten ihn zum Stehen. Langsam blickte er über die Schulter zurück. Sein Körper war vor Angst und Unsicherheit verspannt - die steifen Schultern, die zu Fäusten geballten Hände. Bereit loszurennen, bereit zu kämpfen, wenn man ihn in die Enge trieb. Ich erkannte die Haltung wieder, weil ich sie schon so oft am eigenen Leib gespürt hatte. Er musterte mich, seine dunklen Augen glänzten.
»Du wirst es tun«, sagte er. »Du wirst ihn absetzen.«
Nicht »du wirst ihn herausfordern« oder »du wirst versuchen, ihn abzusetzen«. Er sagte »du wirst«. Als glaubte er, dass ich es konnte. Das wirkte elektrisierend auf mich,
und meine Haare richteten sich auf. Er hielt mich für stärker - vielleicht gelang es mir, ihn auf meine Seite zu ziehen. Vielleicht.
»Im Moment möchte ich bloß wissen, was mit Jenny passiert ist. Ich habe sie in einen
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