Die Stunde der Schwestern
auf der Straße stehen.
Camilla wählte Junes Nummer. Vielleicht wusste die junge Designerin schon mehr als die anderen? Als Tochter eines millionenschweren Rockstars hatte sie immer einen Sonderstatus genossen.
*
June stand am Fenster ihrer neuen Wohnung. Von hier oben konnte sie fast ganz Paris überblicken, die geraden Linien der Boulevards, die breiten Champs-Elysées, die wie eine Schneise durch Paris gingen, sie konnte den Lauf der Seine verfolgen, und wenn sie sich weit aus dem Fenster lehnte, sah sie die goldene Kuppel des Invalidendoms in der Sonne glänzen.
Als das Handy klingelte, suchte sie es in der großen Penthouse-Wohnung, doch es schien verschwunden, und irgendwann hörte das Läuten auf. Es war egal. Sie würde sich sowieso nicht melden. Sie behielt ihr Geheimnis für sich. Sie kannte den Namen von Maximes Nachfolger, und ihr selbst hatte die GGIF eine eigene Kollektion zugesichert, die unter dem Label See by Maxime Malraux herauskommen würde. Eine neue, junge Linie, finanziert von Big Daddy für seine begabte Tochter June.
Als sie sich in ihre zerrissenen Designerjeans zwängte, hoffte sie inständig, dass diese letzte Show für Maxime zu einem sensationellen Erfolg werden würde. Für Maxime Malraux, der in Junes Augen einer der größten Modeschöpfer des zwanzigsten Jahrhunderts war.
*
Alle waren sie gekommen, die Chefredakteurinnen der großen Modemagazine, berühmte Stars aus aller Welt, alle saßen heute bei Maxime Malraux.
Als endlich das erwartungsvolle Stimmengewirr verstummte und die Scheinwerfer aufleuchteten, setzte leise Musik von Mozart ein und begleitete die Models, die rasch die Treppe herunterkamen, über den Laufsteg schritten, vor den Fotografen posierten, dann wieder die Stufen hochliefen und rechts und links im Backstage-Bereich verschwanden. Freundliches Klatschen begleitete die ersten Modelle. Bei den Abendkleidern steigerte sich der Beifall, bis Kate auf hohen Plateauschuhen und in dem gefährlich engen Rock vorsichtig die Treppe herunterstieg und den Laufsteg entlangtrippelte. Sie war geschminkt wie eine Geisha, und sie sah wunderbar aus in dem engen, langen Kleid und der mit Drachen bestickten Jacke. Der Beifall steigerte sich weiter, und einige Bravorufe begleiteten den Gang des Starmodels über den Catwalk.
Dann kam die Gruppe der Klassiker. Elegante Tageskleider und große Abendroben im Stil der fünfziger Jahre. Im schnellen Anschluss traten acht Starmodels auf. Sie trugen die legendären schwarzen Kostüme, die Maxime vor Jahren über Nacht berühmt gemacht hatten, dazu große Organzahüte und elegante Handschuhe. Sie liefen den Catwalk zurück und blieben hintereinander auf den Stufen der Treppe regungslos stehen.
Eine Pause entstand, erwartungsvolle Stille trat ein.
Und plötzlich war er da. Maxime verharrte oben an der Treppe, dann tänzelte er die Stufen herunter, vorbei an den Models in den schwarzen Kostümen. Frenetischer Applaus erhob sich, als er langsam den Laufsteg entlangging, und Standing Ovations begleiteten ihn auf dem Weg zurück. Wieder oben auf der Treppe drehte er sich noch einmal um, und im gleißenden Licht der Scheinwerfer breitete er die Arme aus und dankte seinem Publikum. Plötzlich erlosch das Licht, im ganzen Raum wurde es dunkel, und der Beifall erstarb. Als die Scheinwerfer wieder aufleuchteten, war Maxime verschwunden.
*
Die Entlassung des Designers aus dem eigenen Label wurde in allen Nachrichtensendungen gebracht. Am nächsten Morgen schrieb
France Soir
in seiner Ausgabe:
Maxime Malraux ging in dem Moment seines größten Triumphes. Verneigen wir uns vor ihm, einem der genialsten Designer des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die französische und die deutsche Ausgabe der
Vogue
widmeten ihm eine Hommage mit dem Titel:
Das letzte große Genie hat sich verabschiedet.
Chanel schenkte den Frauen die Freiheit, Maxime Malraux den Triumph der Weiblichkeit.
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Bérénice hatte eine starke Angina, und täglich kam ein Arzt, um nach ihr zu sehen und ihr eine Aufbauspritze zu geben.
»Sie sollten ins Krankenhaus«, ermahnte er sie bei jedem Besuch, da sie sich nicht wirklich erholte.
Völlig lethargisch verbrachte sie die Tage im Bett, nur selten stand sie auf. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren und interessierte sich für nichts. Nur den kurzen Bericht über die Pressekonferenz der GGIF sah sie sich im Fernsehen an.
Maximes Nachfolger war der sechsundzwanzigjährige Spanier Cristobàl Cortez, der mit seinen
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