Die Stunde der Schwestern
hatte sie sich nach ihrer Heimat Marokko gesehnt, nach der Sonne und den Farben dieses Landes. Sie war der einzige Mensch gewesen, der ihn selbstlos geliebt hatte, und nach einer solchen Liebe hatte er dann sein Leben lang gesucht. Jetzt im Alter war diese Sehnsucht nach Liebe und echter Zuneigung größer denn je. Er war einsam, er kannte
tout le monde,
wie er gern betonte, doch er hatte keinen einzigen wirklichen Freund. Er lebte allein in einer Wohnung mit den Ausmaßen einer Villa, eingerichtet von einem chinesischen Stararchitekten. Der gesamte Schlafbereich mit seinen vier Räumen und Bädern, der Sauna und dem Whirlpool war im luxuriösen asiatisch-europäischen Stil eingerichtet, der Arbeitsbereich war kühl und minimalistisch gehalten, und die Wohnzimmer und die beiden Speisezimmer waren modern und exklusiv möbliert. An den Wänden hingen Bilder zeitgenössischer Maler und zweier Impressionisten, die ihn ein Vermögen gekostet hatten. Die weitläufige Küche war mit allem technischen Komfort ausgestattet, perfekt in den Farben Silber und Schwarz. Direkt von der Küche aus führte eine Treppe hinauf in das Appartement seiner Haushälterin.
Die Neugestaltung der Räume hatte ihn mehr gekostet als ein Haus an der Côte d’Azur. Damals hatte er sein Label an die Firmengruppe GGIF , die General Group of International Fashion, verkauft, eine Finanzgruppe, die bereits viele berühmte europäische Label kontrollierte. Sie setzten Maxime unter massiven Druck. In den vergangenen Jahren war der Umsatz der Couture Maxime Malraux drastisch zurückgegangen, nur der weltweite Verkauf der exklusiven Parfums, der Taschen und Schuhe brachte einen hohen Gewinn. Maxime wandte sich vom Fenster ab und griff nach dem Hörer des Telefons. Er wählte die interne Nummer, die ihn mit seiner Haushälterin Josephine verband, und hinterließ ihr seine Wünsche auf dem Anrufbeantworter. Er gab Anweisungen für sein Frühstück und legte die Termine für den Masseur und die Kosmetikerin fest. Seinen Butler und Chauffeur Alain brauchte er heute nicht, auch das sollte Josephine weitergeben. Maxime fiel noch etwas ein: »Rufen Sie im Atelier an, ich werde heute nicht zur Anprobe kommen.«
Er legte auf und ging in sein Badezimmer, das ganz in schwarzem Marmor gehalten war. Er vermied jeden Blick in den Spiegel, als er an den beiden Waschbecken mit ihren vergoldeten Armaturen in Form von Schlangen vorbeiging. Vor dem Frühstück wollte er heiß duschen und sich zurechtmachen.
Er spürte einen bitteren Geschmack im Mund, denn er hatte während der Nacht zu viele Zigaretten geraucht. Er verabscheute sich dafür, denn Nikotin schadete seiner Haut und beschleunigte den Alterungsprozess. Doch im Moment brauchte er Nikotin, immer öfter auch Kokain, um kreativ zu sein.
Maxime fühlte sich leer und ausgebrannt. Er wusste selbst, dass er jedem Trend nur noch hinterherlief. Aber was hieß schon Trend, es gab sowieso keine einheitliche Stilrichtung mehr, keine Sensationen wie damals, als Dior den New Look kreierte.
Am Tag zuvor hatte Bérénice Mouret vorgeschlagen, er solle seine erfolgreichsten Modelle aus den fünfziger Jahren neu interpretieren. Das hatte er heute Nacht versucht. Während er alte Skizzen durchsah, musste er an Fleur denken, den einzigen Menschen, der ihm vertraut und ihm bedingungslos seine Zuneigung geschenkt hatte.
Fleur hatte ihn wie einen Bruder geliebt. Er aber hatte sie hintergangen und betrogen, um Karriere zu machen. Maxime verachtete sich dafür, nie hatte er sich vom Gefühl der Schuld befreien können. Jetzt aber war der Zeitpunkt gekommen, um sich zur Wahrheit zu bekennen. Er wusste es, seit Bérénice zum ersten Mal vor ihm gestanden hatte. Aber er war zu feige dazu. Schon immer litt er unter seiner Feigheit, seiner Unfähigkeit, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen.
Maxime stellte sich unter die Dusche, und der heiße Strahl prasselte auf seinen Nacken, so dass die Schmerzen allmählich nachließen. Bevor der Masseur kam, wollte er sich noch ein straffendes Kollagenvlies aufs Gesicht legen. Er ahnte, wie er heute aussah: eingefallen und faltig, trotz des mehrfachen Liftings, auch seine Lippen waren im Alter dünn und schmal geworden.
Wie so oft spielte er in Gedanken die Möglichkeit durch aufzugeben. In Würde alt werden, keine Operationen mehr, kein Kollagen, keine Diäten. Er hielt dem Druck nicht mehr stand, jede Saison eine Kollektion entwerfen zu müssen, die besser, schöner, sensationeller war
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