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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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abrupt ihre Tasse ab. »Lass uns hinaufgehen, jetzt. Bitte.«
    »Wenn du willst.«
    Hippolyte erhob sich, und sie stiegen zwischen dem duftenden Thymian und dem üppigen Basilikum den steinigen, schmalen Weg den Hügel hinauf. Oben blieben sie stehen und sahen zu den Lavendelfeldern hinüber, dann gingen sie zu dem alten Mandelbaum, unter dem Hippolyte ein kleines Holzkreuz aufgestellt hatte. Es trug die Inschrift:
Für unseren Sohn, der nicht leben durfte.
    Und Hippolyte nahm Bérénice an der Hand, und so standen sie still, bis er ihr mit einer zärtlichen Geste die Haare aus der Stirn strich.
    »Es wird alles gut werden, jetzt, da du endlich die Wahrheit kennst, du wirst sehen.«
    *
    Am Nachmittag brachte Hippolyte Bérénice zum Bahnhof. Schweigend warteten sie auf den Regionalzug nach Marseille.
    »Warum hast du nie mit mir gesprochen? Weil du so ein verdammter Dickkopf bist? Weil du glaubst, als Mann müsstest du alles allein mit dir ausmachen?«, brach es plötzlich aus Bérénice heraus. »Oder war es einfach nur falscher Stolz?«
    »Nein. Du hast mir nicht vertraut, das war es. Du hättest mir nicht geglaubt, sondern es nur als feige Ausrede angesehen. Das wollte ich nicht.«
    »Wir hätten darüber reden sollen.«
    »Wann denn?« Hippolyte lachte auf. »Du hast mir keine Gelegenheit dazu gegeben. Die vergangenen vier Jahre hast du mich nur spüren lassen, dass ich ein Versager bin, ein feiger Hund, der sich davonschleicht und sich betrinkt, während seine Frau eine Fehlgeburt erleidet. Und dann auch noch das Weingut, die Existenz, am Pokertisch verzockt.« Hippolyte sah ihr in die Augen. »Ich habe erst nach vielen Jahren mit jemandem darüber gesprochen, und zwar mit Marie-Luise. Das hat mir gutgetan und …«
    »Dann ist sie ja genau die Richtige für dich«, unterbrach Bérénice ihn scharf. Da fuhr der Zug ein, und Hippolyte küsste sie noch schnell auf beide Wangen, half ihr beim Einsteigen und hob ihre Tasche hinauf. Als der Zug abgepfiffen wurde und langsam aus dem Bahnhof rollte, winkte er, und Bérénice legte die Hand an das schmierige Fenster und drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe.
    Er hatte sie nicht mehr gefragt, ob sie ihm verziehen hatte. Doch sicher spürte er, dass sie es endlich konnte. Und sie liebte ihn mehr als je zuvor.
    *
    Dezember 2001
Paris
    Bérénice wartete. Doch die Wochen vergingen, und Hippolyte meldete sich nicht.
    »Heute Nacht gehöre ich dir«, hatte er gesagt, aber die Einschränkung »heute« hatte sie nicht wahrhaben wollen. Zweimal rief sie bei ihm an, doch als sich eine Frauenstimme meldete, legte sie jedes Mal rasch wieder auf.
    Sie hatte Maxime um ein Gespräch gebeten, doch er lehnte ab, die Kollektion habe absolute Priorität. Beruflich verlangte er ihr alles ab, um seine ausgefallenen Visionen zu realisieren. Doch die Konzentration auf die Arbeit zwang sie, nicht an Hippolyte zu denken und ihre brennenden Fragen nach der Vergangenheit zurückzustellen, bis die Show vorüber war. Doch konnte sie das?
    Hatte sie Hippolyte verloren? Jetzt, da sie die Wahrheit kannte? Jetzt, da sie bereit war für einen Neuanfang? Es schien zu spät. Jeder Tag, an dem er sich nicht meldete, brachte sie dieser Gewissheit näher. Ihre Sehnsucht nach ihm wuchs, und der Schmerz, ihn nicht zu sehen, ihn nicht umarmen zu können, wurde unerträglich.
    Doch nicht nur Hippolyte beschäftigte ihre Gedanken, sie dachte auch viel an ihre Mutter und Fleur. Ein paar Tage vor Weihnachten rief sie Denise an, aber ihre Mutter behauptete, in Arbeit zu ersticken und keine Zeit zu haben.
    »Ich werde auch an Weihnachten in der Schneiderei sitzen, denn an Silvester gibt es in Saint-Emile einen großen Ball, und da muss ich für mehrere Damen das Abendkleid nähen. Also ist es besser, du kommst dieses Mal nicht«, erklärte sie ihrer Tochter nach einer kurzen Pause.
    Nachdenklich legte Bérénice auf. Letztendlich war sie froh darüber, nicht nach Hause fahren zu müssen. Auch ein weiteres Gespräch mit Denise würde nichts bringen. Sie kaufte für ihre Mutter eine Kette aus großen Türkisen und einen Schokoladenkuchen. Während sie die Geschenke verpackte, beschäftigten sich ihre Gedanken wieder mit Denise und deren Schwester. »Das ist Fleur, eine Tante.«
    Wie Denise hatte ihr auch ihr Vater eindringlich geraten, die Vergangenheit ruhen zu lassen, es sei besser für sie. Oft sah sich Bérénice nachdenklich das Foto von Fleur an, das sie in ihrem Schlafzimmer aufgehängt hatte. Ein schönes

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