Die Stunde der Schwestern
Gesicht, ein sinnlicher Mund, große, ernste Augen. Das schien nicht die Frau zu sein, die Denise beschrieb: eine Egoistin, die sich die Männer nahm, wie sie wollte, und die sich nicht um ihre Familie gekümmert hatte, eine Frau, die plötzlich verschwand und von niemandem vermisst oder gesucht wurde.
Am 23 . Dezember rief überraschend Jean Bergé an und lud sie zu einem Spaziergang ein. »Und ziehen Sie flache Schuhe an!«
Bérénice freute sich über die Einladung. Bevor sie Bergé traf, wollte sie in Saint-Emile anrufen. Zwanzig Jahre war sie mit Hippolyte verheiratet, sie waren nicht geschieden, und sie hatten im Oktober miteinander geschlafen. Konnte sie ihm da nicht schöne Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünschen? Sie ließ es lange läuten, bis endlich auf dem Weingut jemand abhob.
»Hallo? Weingut
La Maison Bleue,
Marie-Luise am Apparat.«
»Ich möchte Hippolyte sprechen.«
Eine kleine Pause entstand.
»Es tut mir leid, er ist nicht da. Er macht noch einen Rundgang durch die Weinberge. Kann ich was ausrichten? Sie sind es doch, Bérénice, oder?«
»Ja, ich bin es. Sagen Sie Hippolyte nur, ich wünsche ihm schöne Weihnachten und ein erfolgreiches neues Jahr. Wenn er will, kann er mich ja zurückrufen.«
»Ich werde es ihm ausrichten«, antwortete Marie-Luise kühl.
Rasch legte Bérénice auf. Sie wartete noch eine Stunde, doch Hippolyte rief nicht zurück.
*
Jean gab sich sehr geheimnisvoll. »Wir gehen in mein Lieblingsviertel«, hatte er angekündigt. Sie fuhren mit der Metro, und als sie am Gare de Lyon umstiegen, wusste Bérénice Bescheid.
»Wir fahren zur Station St. Paul und gehen ins Marais, stimmt es?«
»Genau«, antwortete Jean, »ich liebe das Quartier.«
»Hier«, erzählte er, als sie kurz darauf durch die engen Straßen schlenderten und vor einer jüdischen Bäckerei stehen blieben, »hier, an dieser Ecke, in diesen beiden kleinen Straßen, habe ich im vergangenen Sommer meine schönsten Fotos gemacht. Oder hier, sehen Sie!«
Er nahm sie am Arm, ging mit ihr in die nächste Straße und zeigte auf ein kleines Restaurant. An der Fassade des Hauses stand
Koscher Pizza
über der Eingangstür. Sie schlenderten weiter durch die schmalen Straßen, und Jean erzählte ein wenig über das Marais.
»Es ist das älteste Viertel von Paris, eine Zeitlang hatte der Adel hier residiert, inzwischen ist es ein vorwiegend jüdisches Viertel. Es ist aber auch sehr in Mode gekommen, das ist schade.«
In einer
Epicerie
, die exotische Kräuter anbot, kaufte Jean frischen Koriander. »Wir könnten in das Picasso-Museum in der Rue de Thorigny gehen«, schlug er vor.
Doch Bérénice schüttelte den Kopf. Es wurde langsam dunkel, und sie fand es schön, an Jeans Seite ohne wirkliches Ziel durch Paris zu laufen. So schlenderten sie weiter bis zur Place des Vosges.
Bérénice erinnerte sich an einen Tag, als sie und Hippolyte auf Wohnungssuche waren. Erschöpft und mutlos hatten sie hier auf dem Sockel eines der Springbrunnen gerastet.
»Dort, im Haus Nummer 6 , hat der Schriftsteller Victor Hugo gewohnt«, erklärte Jean, und Bérénice nickte zerstreut.
Damals, an jenem Tag im Sommer, war sie mit Hippolyte schließlich in das Café Hugo unter den Arkaden gegangen, und sie hatten sich von ihrem letzten Geld einen Eisbecher gegönnt.
Nach ihrem ausgiebigen Rundgang durch das Marais ließen sie sich treiben, bis sie an der Rue de Rivoli landeten.
Jean blieb stehen. »Wohin jetzt?«
Obwohl sie allmählich müde wurde, schlug Bérénice vor: »Jetzt zeige ich Ihnen meinen Lieblingsplatz.«
»Da bin ich aber sehr gespannt.«
Sie liefen weiter, bis Bérénice endlich stehen blieb.
»Der Rond Point ist Ihr Lieblingsplatz?«, fragte Jean erstaunt.
Bérénice schüttelte den Kopf. »Abwarten«, sagte sie lächelnd.
Sie überquerten die Champs-Elysées, und hier endlich blieb Bérénice auf einer kleinen Verkehrsinsel in der Mitte der Avenue stehen.
»Hier«, sagte sie, »genau hier. Das ist für mich Paris.«
Der Verkehr brauste links und rechts an ihnen vorbei, und sie sahen die Champs-Elysées hoch bis zum angestrahlten Arc de Triomphe.
»Sieht er nicht phantastisch aus? Jedes Mal, wenn ich hier stehe, fühle ich mich als Teil dieser Stadt, lebendig und … glücklich«, beendete sie den Satz.
Jean lachte, was sie in dem Lärm nicht hören konnte, doch sie sah ihn an und lachte auch. Da zog er sie an sich und küsste sie.
*
Jean hatte die Nacht bei ihr verbracht und war sehr
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