Die Stunde der Schwestern
früh gegangen. Jetzt stand Bérénice im Bad und betrachtete sich im Spiegel.
Sie hatte mit einem fremden Mann geschlafen. Denn was wusste sie schon von Jean? Er war berühmt für seine beruflichen Erfolge und für seine vielen Affären. Einmal war sie mit ihm essen gewesen, das zweite Mal hatten sie die Ausstellung von Georges Bonnet in der Petite Galerie des Arts besucht, und er hatte sie geküsst. Über sich hatte er beide Male kaum etwas erzählt. Er verschwand, wann es ihm passte, und tauchte auf, wann immer er wollte.
Als sich Bérénice jetzt im Spiegel erblickte, sah ihr Gesicht rosig und glücklich aus. Die Nacht hatte ihr gutgetan. Sie hatte die tiefe Sehnsucht nach Hippolyte mit einem anderen Mann bekämpft. Überwunden hatte sie sie nicht.
Sie lächelte sich zu, als sie ihre Lippen dunkelrot nachzog, dann schlüpfte sie in ihren Mantel und verließ die Wohnung. Sie hatte Lust, sich einen kleinen Tannenbaum zu kaufen, ihn zu schmücken und auf den Couchtisch zu stellen.
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13
Januar 2002
Saint-Emile
E s war noch dunkel. Nach und nach huschten schattenhafte Gestalten in die Kirche zur Frühmesse, die der alte Pfarrer jeden Tag zelebrierte, auch wenn nur noch ein paar alte Frauen und Männer dem Gottesdienst beiwohnten.
Denise saß zusammengekrümmt in der vorletzten Bank. Hier hatte sie schon als junges Mädchen gesessen, wenn ihre Mutter Joselle mit ihr und Fleur in die Frühmesse ging. Manchmal war Denise neben Fleur sogar eingeschlafen und erst aufgewacht, wenn die Schwester ihr einen schmerzhaften Stoß in die Seite verpasste. Dann fingen beide zu kichern an, so dass schließlich der Pfarrer Joselle bat, ihre Töchter zu Hause zu lassen, da es ihnen ja wohl an ernsthaftem Glauben fehle.
Denise lauschte auf die Stimmen der wenigen Gläubigen, die dem Priester im Wechselgesang antworteten. Heute war der Tag, den sie bis ins kleinste Detail vorbereitet und geplant hatte. Sie empfand Ruhe und Heiterkeit, denn sie hatte eine Entscheidung getroffen. Zur Lesung erhob sie sich nicht mit den anderen, sondern blieb sitzen und sah hinauf zu den Fenstern, hinter denen es allmählich heller wurde und ein trüber Januartag anbrach.
Die hellen Glöckchen des Ministranten bimmelten, und die Köpfe senkten sich zur Wandlung. Die Messe ging dem Ende zu, auf das Denise ungeduldig wartete. Sie konnte nicht mehr zurück. Sie hatte an Bérénice einen Brief geschrieben, den ihre Tochter heute bekommen müsste. Bérénice würde sich nun ihr ganzes Leben lang Vorwürfe machen und tiefe Schuldgefühle empfinden, die sie nicht mehr losließen. Ende Oktober war ihre Tochter in Saint-Emile gewesen, einmal hatte sie kurz angerufen, nicht einmal an Weihnachten hatte sie ihre Mutter besucht, wobei Denise verdrängte, dass sie es so gewollt hatte.
Der Pfarrer hatte den Segen erteilt, die Schritte der wenigen Besucher hallten auf dem Steinboden, als sie dem Ausgang zustrebten. Der Messner löschte die Kerzen auf dem Altar, und nun erhob sich auch Denise. Das letzte Mal ging sie durch den Mittelgang, auf dem sie vor fünfundvierzig Jahren am Arm ihres Onkels auf den wartenden Bräutigam zugeschritten war. Sie hatte glücklich sein wollen wie viele andere Frauen auch, aber das Schicksal hatte es ihr nicht gegönnt.
Vor der Kirche blieb sie stehen, nickte einer Gruppe von alten Frauen zu und bog in die Straße zum Friedhof ein. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie den Weg zum Grab der Déschartes entlanghastete. Langsam ließ sie sich auf den kalten, feuchten Sockel unter dem steinernen Engel nieder. Hatte sie hier nicht schon einmal gesessen? Sie konnte sich nur schwer erinnern. War es damals mit Fleur? Am Tag der Beerdigung ihrer Mutter?
»Fleur …«, murmelte sie, und ein trockenes Schluchzen stieg in ihrer Kehle hoch. »Fleur, wie warst du entsetzt, als du erfahren hast, dass unsere Mutter ihre Ersparnisse und das Haus mir vererbt hatte. Aber du hast dich nie um Maman gekümmert, bist auch nicht gekommen, als sie im Sterben lag. Und Bérénice …«, flüsterte sie und sah auf das Grab ihrer Mutter hinunter. »Weißt du, Maman, nicht einmal an Weihnachten hat sie mich besucht. Aber das wird sie bereuen.«
In tiefer Erregung erhob sich Denise wieder und hastete den Kiesweg zurück zum Ausgang des Friedhofs, hetzte weiter und kam, schwer nach Atem ringend, zu Hause an.
Noch während sie die Tür aufschloss, schlüpfte sie aus ihrem Mantel, warf ihn achtlos über das Bügelbrett und stieg die
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