Die Stunde der Schwestern
Wendeltreppe zur Wohnung hinauf. In der Küche ließ sie sich auf den wackligen Klappstuhl fallen und streckte ihr linkes Bein aus. Sie kicherte vor sich hin, während sie es abbog und wieder ausstreckte.
Als Etienne sie damals geschlagen und vergewaltigt hatte, war sie mit dem Knie heftig an den Eisenpfosten des Bettes gestoßen. Wochenlange Schmerzen waren die Folge gewesen, sie konnte das Knie nicht abbiegen, denn Wasser hatte sich angesammelt, und es kam zu einer Infektion. Eine Versteifung des Kniegelenks drohte, doch Denise hatte sich behandeln lassen, und das Knie heilte vollständig aus. Aber sie wollte Rache, und so zog sie, wenn sie beobachtet wurde, das linke Bein weiterhin nach. Sie täuschte ein leichtes Hinken vor, und es war jedes Mal eine kleine Befriedigung, wenn sie auf Etiennes Gesicht Betroffenheit erkennen konnte. Es tat gut, ihm jeden Tag die Folgen seines Verbrechens vor Augen zu führen. Als sie nach der Trennung in das Haus ihrer Mutter zurückkehrte und die Schneiderei wieder eröffnete, hinderte ihr »Gebrechen« sie daran, vor den Damen der Gesellschaft auf dem Boden herumrutschen und deren Rocksäume abstecken zu müssen. Diese Demütigung hätte sie nicht auch noch ertragen können. Denn als geschiedene Frau war sie in das Leben zurückgestoßen worden, das sie bei ihrer Mutter so verachtet hatte.
Zuerst bemitleidete man Denise Aubry-Déschartes, die ihr Leben trotz ihres Gebrechens so tapfer meisterte. Einige Frauen gingen nicht mehr in die Apotheke von Etienne Aubry, der seine geschiedene Frau nicht angemessen versorgte, wie sie und das Kind es verdient hätten. Doch letztendlich war Etienne ein angesehener Mann, der sich als Stadtrat für das Wohl der Bürger einsetzte, und bald verstummten die Ressentiments. Er würde, hieß es nun, für sein Handeln vielleicht gute Gründe gehabt haben.
Denise erhob sich jetzt wieder und zog ihren großblumigen Morgenrock an. Die grellen Farben würden sie blass aussehen lassen, aber das war ja dann egal, wenn man sie fand. Aus dem Kühlschrank holte sie den Champagner, den sie am Tag zuvor gekauft hatte. Mit der Flasche und einem Glas setzte sie sich auf das abgeschabte Biedermeiersofa in ihrem Wohnzimmer. Es war still im Haus. Nur aus der Küche hörte man das eintönige
Tick-tock-tick-tock
der Wanduhr.
Sie hatte noch so viel Zeit. Den Champagner wollte sie erst kurz vor zwölf Uhr mittags trinken. Bis dahin würde sie einfach hier liegen und sich die Konsequenzen ausmalen, die ihr Handeln nach sich ziehen würde.
Es dauerte nicht lang, dann fing sie an zu frösteln, denn es war kalt in der Wohnung. Sie sollte sich etwas anderes anziehen. Im Schlafzimmer schlüpfte sie in ihr dunkelrotes, weit geschnittenes Jerseykleid. Sie war in den vergangenen Jahren dick geworden, und eine Taille war nicht mehr vorhanden. Aber die Farbe passte gut zu ihren grauen Haaren, und das Kleid war bequem und warm. Schwer ließ sie sich zurück aufs Sofa fallen und lauschte auf das Ticken der Küchenuhr.
Tick-tock-tick-tock.
Hier hatte sie mit Fleur gesessen, als sie ihr diesen Vorschlag gemacht hatte. Es war ein Geschäft gewesen, mehr nicht … und Fleur hatte es gewusst.
Zäh verrannen die Stunden, und als es endlich zwölf Uhr schlug, war Denise sicher, dass Bérénice ihren Brief bekommen hatte. Samstags war Bérénice immer daheim, das wusste Denise, sie erledigte ihre Hausarbeit.
Es war so weit.
Denise öffnete die Champagnerflasche und goss sich ein Glas ein. Hastig trank sie es aus. Sie mochte keinen Alkohol, doch heute musste sie sich Mut antrinken. Gleich ein zweites Glas, nur schnell, schnell, jetzt nicht mehr nachdenken, sie konnte nicht mehr zurück. Sie schloss die Augen und streckte sich auf dem schmalen Sofa aus.
Tick-tock-tick-tock,
klang es aus der Küche.
Tick-tock-tick-tock.
Denise hatte in den vergangenen Monaten oft über ihre Tochter nachgedacht. Wieso konnte Bérénice nicht einsehen, dass sie alles für sie getan hatte, immer für sie da gewesen war? Bérénice besaß ihre ganze Liebe. Aber man durfte nichts erwarten, in der Liebe bekam man nichts zurück, das war die bittere Wahrheit.
»Bérénice«, flüsterte sie, »du bist doch mein Kind, mein geliebtes Kind.«
Du wirst es bereuen, dachte sie dann, dass du dich in den vergangenen Monaten nicht um mich gekümmert hast. Du wirst es bereuen, mich mit diesen Fragen bedrängt zu haben. Du wirst alles bereuen: deine Lieblosigkeit mir gegenüber, deinen Egoismus. Du bist genau wie
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